Das Blut der Lilie
Handy nicht finden. Nirgendwo. Ich wühle in meiner
Umhängetasche und in meinen Jackentaschen. Robert Plant trällert über Zeit und
Raum, und ich kann das Handy immer noch nicht finden. Erneut greife ich nach meiner
Tasche und reiÃe panisch alles heraus â Börse, Schlüssel, Alexâ Tagebuch â und
sehe es. Endlich. Es lag unter dem Tagebuch.
Ich schalte es ab. Man könnte eine Nadel fallen hören.
Niemand raschelt mit Papier, hustet oder macht Notizen, weil alle mich entsetzt
anstarren. Ich will nicht zu dem Schalter hinübersehen, tue es aber trotzdem.
Und sehe genau, was ich erwartet habe â drei erhobene Finger von Yves Bonnard.
  36 Â
Also ja, tatsächlich, ich bin rausgeflogen. Perfekt. Yves
Bonnard hat mich rausgeworfen.
Es ist noch nicht mal elf Uhr. Ich sollte in der Bibliothek
sein und Malherbeaus Papiere fotografieren. Stattdessen sitze ich in einem Café
und ertränke meine Sorgen in einer groÃen Tasse Kaffee. Es ist warm und sonnig,
ich sitze im Freien und beobachte, wie die Welt an mir vorbeizieht.
Ich weià noch immer nicht, was passiert ist. Ich meine, die
Handschuhe nicht anzuziehen, war ein dummer Fehler. Und das Singen? Ja, das
hätte ich auch nicht tun sollen. Aber ehrlich, es war mir nicht bewusst. Die
Musik hat mich einfach in ihren Bann geschlagen. Aber das Handy â das war
eindeutig nicht mein Fehler. Ich weià sicher , dass ich es leise gestellt
hatte nach meiner Unterhaltung mit Virgil. Ich war in einer Bäckerei und kaufte
das Croissant für Yves Bonnard. Gerade als ich bezahlen wollte, fiel mir ein,
dass in der Bibliothek keine Handys erlaubt sind, und stellte es auf Vibration
um. Genau in dem Moment und genau dort. Um auf Nummer sicher zu gehen. Also,
was ist passiert? Irgendwas in meiner Tasche muss gegen den Knopf für die
Lautstärke gedrückt und ihn wieder eingeschaltet haben. Das Tagebuch
wahrscheinlich. Es lag auf dem Handy. Das Verrückte dabei ist, dass der Anrufer
keine Nachricht hinterlassen hat und dass auch keine Rückrufnummer angezeigt
wird.
»Sie dürfen mich nicht rauswerfen. Bitte. Ich hab gerade erst
meine Dokumente bekommen. Ich muss sie noch durchsehen. Und dann muss ich sie
fotografieren. Und zwar heute. Heute ist Freitag, am Sonntag reise ich ab, und
am Samstag ist die Abélard-Bibliothek geschlossen.«
»Daran hätten Sie frühen denken sollen, bevor Sie den ganzen
Lesesaal störten. Drei Mal. Die Leute hier sind zum Arbeiten hergekommen.«
»Aber ich doch auch«, erwidere ich. »Wirklich. Es ist nur
leider so, dass meine Arbeit eben eher etwas lauter ist, verstehen Sie?«
Er sagte, das verstehe er nicht, und wünschte mir einen guten
Tag. Und da sitze ich nun. Total fertig. Wenn ich diese Fotos nicht kriege,
reise ich nirgendwohin.
Ich hole tief Luft und überlege noch einmal. Ich weiÃ, was
ich tun werde: Ich bleibe bis zur Mittagspause weg, lasse Yves Bonnard Zeit,
sich zu beruhigen. Wenn die Bibliothek wieder öffnet, schlüpfe ich hinein und
flehe ihn auf Knien an, mir noch eine Chance zu geben. Bis dahin muss ich zwei
Stunden totschlagen. Ich habe das Tagebuch dabei, also bleibe ich hier sitzen
und lese.
»Genau das will sie von dir«, sagt eine leise Stimme in mir.
Dieselbe Stimme, die sich gestern zu Wort meldete, als die Bibliothek schloss.
»Ich meine, es ist doch irgendwie komisch, dass dein Telefon klingelt, obwohl du
es abgestellt hast, oder?«
Die Worte jagen mir einen kalten Schauer über den Rücken,
aber ich gehe achselzuckend darüber hinweg. Es sind die Tabletten, das ist
alles. Zu viel Qwell. »Aber du hast heute Morgen doch nur eine genommen«, erinnert
mich die Stimme. »Du hast die Dosis doch reduziert.«
»Halt den Mund«, murmle ich, trinke meinen Kaffee und fange
an zu lesen.
6. Mai 1795
Der König und seine Familie fuhren mit der Kutsche nach
Paris, nachdem Versaille gefallen war. Meine Familie und ich gingen zu FuÃ.
Wir waren erschöpft, als wir endlich die Stadt
erreichten. Nach langer Suche fanden wir eine Kammer im Marais. Sie war klein
und feucht, aber das machte mir nichts aus, weil ich mich ohnehin kaum zu Hause
aufhielt, sondern zu allen Tageszeiten und bei jedem Wetter auf den StraÃen
herumtrieb und versuchte, in die Tuilerien zu gelangen. Weil ich Louis Charles
inzwischen liebte und hoffte, ihn zu wiederzusehen. Und weil mir zudem an
meinem Aufstieg gelegen
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