Das Blut der Lilie
allein wusste, dass man auf den Wahnsinn in dieser
Welt mit noch mehr Wahnsinn reagieren muss.
Lass sie prahlen. Lass sie drohen. Wenn sie mich tot
haben wollen, dann müssen sie schon selbst Hand anlegen. Ich werde es nicht für
sie tun.
Ich war tagelang in den Katakomben, aber jetzt bin ich
wieder unter den Lebenden. Mein Bein blutet nicht mehr. Die blutigen Kleider
habe ich verbrannt, die Wunde neu verbunden, und obwohl ich vor Schmerzen
schreien könnte, gehe ich aufrecht in Reithosen und einem gestreiften Gehrock
durch die StraÃen. Ich wünsche Camille, dem Blumenverkäufer, Raymond, dem
Metzger, und Foy, dem Koch, einen guten Tag, und alle grüÃen mich zurück â
Alexandre, den Schauspieler, der im Palais Royal Dramen rezitiert â, und
niemandem käme in den Sinn, ich könnte der Grüne Mann sein.
Genau heute Nacht werde ich wieder mit meinen Raketen
und Zündschnüren losziehen. Mit einem Knall werde ich sie aus ihren bequemen
Betten jagen. Die Dächer von ihren Häusern, die schwarze, elende Nacht in
Stücke sprengen.
Ich werde nicht aufhören.
Denn ich mag wahnsinnig sein, aber niemals fügsam und
brav.
Nein, sie war nicht fügsam. Aber sie war schlau. Sie war
gerissen, mutig und klug.
Reichte das? Klug und mutig zu sein? Um die Garden zu
überlisten? Um am Leben zu bleiben?
Ich hoffe es. Von Herzen. Und die Hoffnung macht mich nervös.
Wie heute Nachmittag schon. In der Bibliothek. Als ich an
Virgil dachte.
Ich mag die Hoffnung nicht besonders. Tatsächlich hasse ich
sie. Sie ist das Crystal Meth der Emotionen. Sie macht schnell süchtig und
bringt dich ohne Erbarmen um. Sie ist wie eine Hiobsbotschaft. Die Allerschlimmste.
Wie Messerstiche und Brandbomben. Wenn Hoffnung ins Spiel kommt, ist es nur
eine Frage der Zeit, bis jemand verletzt wird.
Wieder höre ich G.s Uhr schlagen. Halb eins. Ich muss
unbedingt schlafen. Ich nehme das Tagebuch mit in mein Zimmer und lege es auf
den Nachttisch. Zehn Minuten später bin ich im Bett. Mit geputzten Zähnen.
Gewaschenem Gesicht. Die Tabletten eingeworfen. Das Licht ausgeschaltet. Das
einzige Problem ist, dass mich Alexâ Geschichte so aufgewühlt hat, dass ich
nicht schlafen kann.
Ich schlieÃe die Augen und wälze mich herum. EntschlieÃe
mich, etwas Musik zu hören. Ich greife auf dem Nachttisch nach meinem iPod, und
erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich ihn nicht habe. Sondern dass er bei
Virgil ist.
Ich greife nach meinem Handy.
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»Hallo«, meldet sich eine Stimme kurz darauf.
»Hey, Virgil.«
Es dauert einen Moment, dann, »Andi?«
»Ja.«
»Hey«, sagt er und ich höre an seiner Stimme, dass er
lächelt.
»Ja, hey«, lächle ich zurück.
»Was machst du gerade?«
»Nicht schlafen. Und du?«
»Auch nicht schlafen. Ich fahre gerade um den Arc de
Triomphe.«
»Wow. Schön für dich.«
»Dass ich um den Arc de Triomphe fahre?«
»Dass du nicht schläfst. Sondern fährst. Gleichzeitig«,
antworte ich und zucke innerlich zusammen. Mein Gott. Warum führe ich mich wie
ein Volltrottel auf? Warum kann ich nicht cool bleiben, wenn ich mit ihm rede?
Er lacht. »Ja, wahrscheinlich schon.«
»Ich wollte eigentlich bloà wissen, ob die Möglichkeit
besteht, heute Nacht meinen iPod zurückzukriegen?«
»Ãhm, nein. Tut mir wirklich leid. Ich wollte ihn vorhin
vorbeibringen, aber ein Freund, der von acht bis Mitternacht arbeitet, ist
krank geworden und ich hab seine Schicht übernommen, deshalb hatte ich keine
Zeit, bei dir vorbeizukommen.«
»Du fährst ganze zwölf Stunden heute Nacht? Wow. Na schön.
Ich verstehe vollkommen, aber du schuldest mir noch was.«
»Was denn?«
»Einen Song. Ich kann nicht schlafen und muss in fünf Stunden
wieder aufstehen. Sing mir was vor.«
Er lacht. »Also gut. Aber ich muss aufhören, wenn ein Kunde
einsteigt.«
Er legt los. Er hat einen Song über Afrika. Und einen über
New York. Einen über Taxifahrer, seinen besten Freund Jules und sein Viertel.
Einen über Paris, seine Stadt, die Stadt seiner Träume. Er singt davon, wie es
ist, die ganze Nacht herumzufahren, von den Nachtschwärmern, die er trifft, und
dass er manchmal bei Sacré-CÅur, hoch über der Stadt, anhält und zusieht, wie
die Sonne aufgeht. Ich höre ihn in seinen Songs. Seine Träume und
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