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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Ängste. Sein
aufschneiderisches Rapper-Gehabe. Seine Freundlichkeit und seine Wut. Ich höre
aus seinen Songs seine Seele heraus, ihrem Klang könnte ich die ganze Nacht
lang lauschen.
    Ein Kunde steigt ein nach dem Song über Sacré-Cœur, und er
muss eine Weile still sein. Nachdem der Typ ausgestiegen ist, macht er weiter.
    Â»Warte«, sage ich und unterbreche ihn.
    Â»Was ist?«
    Â»Machst du das wirklich? Bei Sacré-Cœur rumhängen und den
Sonnenaufgang beobachten?«
    Â»Ja, sicher. Manchmal nehme ich meine Gitarre mit. Es ist
mein Lieblingsplatz in Paris. Abgesehen von den Katakomben. Hey, bist du immer
noch nicht eingschlafen? Es ist fast schon zwei.«
    Â»Nein.«
    Â»Okay. Jetzt fahre ich die großen Geschütze auf. Wenn die
nicht helfen, hilft gar nichts mehr.«
    Er fängt an in einer Sprache zu singen, die ich nicht kenne.
Sie klingt archaisch und schön. Seine Stimme hebt und senkt sich mit der
Melodie. Wie ein Gebet. Sie ist so schön und weich, dass mir das Herz weh tut.
Tränen fallen auf mein Kissen, während ich ihm zuhöre.
    Â»Einfach wunderschön«, flüstere ich, als er fertig ist.
    Â»Ja, das stimmt.«
    Â»Mann, du bist zu bescheiden«, antworte ich verschlafen.
    Er lacht. »Ich meinte den Song, nicht meine Stimme.«
    Â»Wie heißt er?«
    Â» Ya
gamrata ellil . Das ist ein tunesisches Lied. Du solltest hören,
wie Sonia M’barek es singt. Oder meine Mom.«
    Â»Sing es noch einmal«, murmele ich. »Bitte.«
    Er tut es. Immer wieder. Ich weiß nicht, wie viele Male. Ich
zähle nicht mehr mit. Sein Singen trägt mich fort. An einen Ort jenseits der
Pillen, jenseits des Schmerzes. Es trägt mich, bis ich ruhig werde. Mich sicher
fühle. Bis schließlich der Schlaf kommt und ich ganz in die dunkle samtige
Wärme seiner Stimme eingehüllt bin.
    Â Â 34  
    Yves Bonnard schaut mich an, als hätte ich eine Schaufel Mist
    auf seinem Schalter abgeladen.
    Â»Das ist ein Croissant.« Ich schiebe die kleine braune Tüte
näher zu ihm hin. »Für Sie. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Hunger.«
    Â»Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung davon, was Fett
Papier antun kann?«, fragt er mich mit zornbebender Stimme. »Nehmen Sie das
weg. Augenblicklich. Und waschen Sie sich die Hände, bevor Sie zurückkommen.«
    Â»Hey, vielen Dank«, antworte ich und nehme die Tüte.
    Stellen
Sie sich gut mit ihm , hat mir gestern der Professor geraten.
Sieht aus, als würde mir das prima gelingen. Ich gehe nach draußen in den Hof
vor dem Gebäude. Dort fummeln ein paar Arbeiter an einem Leitungsrohr herum.
»Haben Sie Hunger?«, frage ich einen von ihnen und drücke ihm die Tüte in die
Hand, bevor er antworten kann.
    Ein paar Minuten später stehe ich mit blitzsauberen Händen
und vier perfekt ausgefüllten Bestellzetteln wieder in der Schlange. Nach etwa
zehn Minuten bin ich an der Reihe. Ich reiche Yves Bonnard die Zettel, und er
prüft einen nach dem anderen. Sicher wird er mir gleich wieder sagen, ich solle
verschwinden – aber nein.
    Â»Gut«, sagt er und schiebt sie in die Vakuumröhre. »Sie sind
tatsächlich in der Lage, einen Bestellzettel korrekt auszufüllen. Ich hatte
meine Zweifel.« Er erklärt mir, dass die von mir gewünschten Medien in Kürze
heraufgebracht würden, und leiert dann seinen Regelkatalog herunter. Er
schwafelt endlos, aber ich achte nicht darauf. Endlich bekomme ich das Zeug,
das ich brauche.
    Schließlich ist er fertig, reicht mir einen Bleistift aus der
Box auf seinem Tisch und ein Paar dünne weiße Baumwollhandschuhe. Ich nehme
sie, setze mich an einen der Lesetische und blicke auf die Uhr an der Wand.
9.52 Uhr. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ich erst um 9.30 Uhr hier
angekommen bin. Eigentlich hatte ich vor, früher hier zu sein, aber die Métro
hatte Verspätung, und nachdem ich ausgestiegen war, musste ich einen kleinen
Umweg einlegen, denn gerade, als ich in einer großen Menschenmenge die Station
verließ, klingelte mein Handy.
    Â»Jetzt bist du wieder an der Reihe«, sagte Virgil.
    Â»Ã„hm, ich kann jetzt nicht. Ich stecke gerade mitten in der
Pariser Rushhour.«
    Â»Na und?«, fragt er mit einem gereizten Unterton in der
Stimme.
    Â»Was ist los?«, frage ich besorgt und sehe mich nach einem
günstigeren Ort als dem Boulevard Henri IV .

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