Das Blut der Lilie
bin sicher, das heiÃt »erste
Verwarnung«.
Ich öffne den ersten Karton und nehme Amadé Malherbeaus
Todesurkunde und Testament heraus. Ziemlich übersichtliche Papiere. Er starb im
Alter von achtundfünfzig Jahren in seinem Haus. Er hatte weder Frau noch Erben,
daher hinterlieà er alles dem Pariser Konservatorium. Keines der Dokumente sagt
mir irgendetwas, was ich nicht schon weiÃ, aber sie sehen ziemlich cool aus mit
der geschwungenen Schrift und den Verzierungen. Sie werden tolles Bildmaterial
abgeben.
Als Nächstes öffne ich den Karton mit den persönlichen
Papieren und fange an sie durchzusehen. Es handelt sich hauptsächlich um
Quittungen. Unmengen davon. Für alles â angefangen von Pferden über Möbel bis
hin zu einer Kutsche.
Es gibt Briefe von Musikverlegern, Konzerthausbesitzern und
Leuten, die wollten, dass er in ihren Häusern auftritt. Einer stammt von dem
Geiger und Komponisten Paganini und trägt eine Londoner Adresse. Ich ziehe ihn
heraus und lese ihn aufgeregt durch, weil ich glaube, die Gelehrten hätten ihn
vielleicht übersehen, nachdem er in keinem der Bücher erwähnt ist, und erwarte
mir eine ausführliche, engagierte, erhellende Diskussion über Musik.
Aber nein. Paganini beklagt sich in dem Brief nur über
englische StraÃen, englisches Publikum, feuchte englische Hotels, schlechtes
englisches Wetter und ungenieÃbares englisches Essen. Er verabschiedet sich mit
der Hoffnung, im Juni auf dem Rückweg nach Genua, in Paris Station zu machen
und mit seinem Freund Malherbeau unter dem Rosendach seines Gartens Kaffee zu
trinken.
Enttäuscht lege ich alles in den Karton zurück. Zwar werde
ich eine Menge davon fotografieren, all die Quittungen und Briefe â und wenn
ich sie aufhelle, werden sie einen tollen Hintergrund für meine PowerPoint
Slides abgeben â, aber ich muss auch etwas über Malherbeau in meiner Einleitung
sagen, und zwar etwas, das Hand und Fuà hat. Und nichts von diesem Material
sowie nichts von dem, was ich in den Büchern über ihn gelesen habe, trägt auch
nur das Geringste dazu bei, dass ich ihn besser kennenlerne. Ich meine, was
kann ich sagen? Dass er Kaffee und Rosen mochte? Das bringt mich nicht zum
Flughafen.
Ich öffne den ersten Karton mit seinen Kompositionen.
Malherbeaus Konzert in a-Moll liegt ganz oben auf. Ich kenne die Noten. Ich
habe eine Kopie davon. Es ist das Feuerwerkskonzert . Genau dieses Stück habe ich
schon hundert Mal gespielt. Aber auf eine Sache bin ich nicht vorbereitet: die
Noten und Takte exakt so zu sehen, wie er sie geschrieben hat, die Hand des
Meisters auf dem Blatt zu spüren.
Das Papier ist noch milchweiÃ, lediglich an den Rändern
vergilbt und eingerissen. Ich nehme das Blatt vorsichtig heraus. Einige der
Notensymbole sind verunstaltet. Es gibt Kleckse und Ausstreichungen, und ich
erkenne, dass ich nicht auf die abschlieÃende Fassung blicke, sondern auf einen
Entwurf. Und der funktioniert nicht richtig. Tatsächlich ist das Ganze ein ziemliches
Chaos.
Ich betrachte die nächsten Notenblätter aus dem Karton. Es
gibt einen weiteren Entwurf für dieses Konzert. Er zeigt deutliche
Verbesserungen. Ich bin begeistert â es gibt noch vier weitere Entwürfe für
dasselbe Konzert! Ich breite sie alle der Reihe nach auf dem Tisch aus, sodass
ich nacheinander die jeweils erste Seite studieren kann. Nach eingehender
Betrachtung sämtlicher Blätter kann ich erkennen, was Malherbeau geändert hat
und warum er das tat. Ich kann verfolgen, wie sein Geist arbeitete. Ich sehe
die Originalität. Das Genie.
Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich bin so aufgeregt, dass
ich unwillkürlich die Noten auf einem unsichtbaren Griffbrett greife. Mit dem
Fuà den Rhythmus klopfe. Und die Noten singe â »⦠ba ba ba BAA da dadadada DAA da â¦Â«
Und da höre ich ihn wieder. Den Richterhammer. Und Gottes
Stimme: »Nummer zwölf, Ruhe bitte!« Ich blicke auf. Yves Bonnard hält zwei
Finger hoch. Noch eine Verwarnung und ich fliege raus.
»Tut mir leid«, flüstere ich.
In dieser Sekunde, genau in dieser Sekunde, klingelt mein
Handy. Das wäre vielleicht weniger schlimm gewesen, wenn ich als Klingelton, sagen
wir, Bachs Cello-Suite Nr. 1 hätte und die Lautstärke weniger durchdringend
wäre. Aber so ist es nun mal nicht. Ich habe Kashmir . Richtig laut
aufgedreht. Und ich kann das
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