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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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war, den ich immer noch mit der Unterstützung der
Königin erreichen zu können glaubte.
    Ich spielte Gitarre an den Toren, am Königinnenweg und
überall entlang der hohen Eisengitter, die den Garten umgaben, um eventuell
einen Blick auf Louis Charles zu erhaschen, was mir jedoch nie gelang, weil
mich die Wachen wegjagten. Ich band Nachrichten an Steine, die ich über die
Mauer warf. Und einmal eine Marionette. Später sah ich jedoch das Kind des
Kochs damit spielen. Ich verkleidete mich als Wäscherin und versuchte eines
Montagmorgens, mich mit den Waschfrauen nach hineinzuschmuggeln. Ein anderes
Mal versteckte ich mich auf einem Fleischkarren. Jedes Mal wurde ich entdeckt
und geschlagen.
    Der Tuilerien-Palast steht mitten in der Stadt. Seine
Gärten sind klein und eingezäunt. Nichts im Vergleich zu den offenen
Rasenflächen und schattigen Grotten von Versailles. Wenn ich darum herumgehe,
frage ich mich oft, wie Louis Charles hier herumtollen und spielen kann? Wer
sitzt mit ihm unter dem nächtlichen Himmel und zählt die Sterne? Wer stibitzt
Knallfrösche von den Feuerwerksmeistern und lässt sie für ihn krachen? Er war
ein seltsames Kind, das zur Schwermut neigte. Die Königin hatte mich gebeten,
ein fröhliches Kind aus ihm zu machen. Wenn ich das nicht machte, wer dann?
    Ich wollte einen Weg ins Innere des Palastes finden.
Ich wollte mich nicht abhalten lassen, es immer wieder zu versuchen, aber dann
musste ich aufgeben, weil ich bei den Marionetten gebraucht wurde. Wir waren
ärmer und hungriger als je zuvor, denn es wurde für uns immer schwieriger,
unser tägliches Brot zu verdienen. Paris hatte sich verändert. Es war nicht
mehr dieselbe Stadt, die wir vor sechs Monaten verlassen hatten.
    Auf den Straßen wurde nicht mehr fröhlich geplaudert.
Die Zeitungen waren nicht mehr voller Klatsch über Schauspielerinnen und Höflinge.
Niemand staunte mehr über die neue Kalesche eines Herzogs oder das schöne
Gespann, das er dafür gekauft hatte. Niemand stritt mehr darüber, wo man das
beste Kalbshirn bekam – bei Chartres oder bei Foy. Frauen legten die gepuderten
Perücken ab. Sie stopften ihre Seidengewänder in Schränke und trugen Kleider
aus Musselin. Die Männer kleideten sich in Anzüge aus schlichtem Leinen.
    Was die Stadt inzwischen fesselte, waren die Vorgänge
in der Nationalversammlung. Was hatte Danton heute Morgen gesagt? Wen hatte
Marat als Schurken bezeichnet? Was hatte Madame Roland in ihrer Kolumne
geschrieben? Was wurde über die Jakobiner, über den Klub der Cordeliers
verbreitet? Würde der König die Menschenrechte akzeptieren? Und wer war dieser
Anwalt aus Arras namens Robespierre?
    Ein neuer Geist lag in der Luft, der Geist der
Hoffnung, des Wandels. Eine neue Energie war in der Stadt zu spüren, echte
Begeisterung. Die Leute sprachen sich nicht mehr mit Monsieur oder Madame an,
sondern mit Bürger. Sie redeten offen von einer Verfassung für Frankreich, von
Gleichheit und Freiheit.
    Es ist eine Zeit der Wunder, sagte mein Vater. Alles
ist möglich.
    Wunder?, zischte mein Onkel. Es wird ein Wunder sein,
wenn wir nicht verhungern. Diese Revolution ist schlecht fürs Geschäft.
    Er hatte recht. Perückenmacher litten. Genauso Seidenweber.
Juweliere, Blumenhändler und Süßwarenhersteller gingen bankrott. In den teuren
Läden bekam man vergoldete Tische und Marmorstatuen beinahe geschenkt. Und auch
wir taten uns immer schwerer. Die Pariser interessierten sich plötzlich für
hehre Ideale und lachten nicht mehr über furzende Marionetten. Also mussten wir
neue Stücke aufführen – die meines Vaters. Das waren ernsthafte
Auseinandersetzungen mit dem Tyrannen Cäsar oder den Exzessen des wahnsinnigen
Königs Georg, und so langweilig, dass ich gewöhnlich im ersten Akt schon
einschlief oder mich zu Vorsprechterminen davonschlich. Bürger und Verfassungen
bedeuteten mir nichts. Ich interessierte mich bloß fürs Theaterspielen. Wenn
ich nicht in die Tuilerien hineinkam und die Gunst der Königin nicht
zurückgewinnen konnte, musste ich einen anderen Weg finden, um an die Bühne zu
kommen.
    Ich dachte, es sei nur eine vorübergehende Laune, diese
Leidenschaft für die Revolution, aber ich täuschte mich. Sie griff jeden Tag
weiter um sich, bis Paris, meine helle, leuchtende Stadt, so langweilig wurde
wie eine Zirkusartistin, die ins Kloster gegangen

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