Das Blut der Lilie
ist.
Doch es gab einen Ort, der sich nicht verändert hatte â
das Palais Royal. Es war immer schon die Heimstatt von Schurken und Rebellen
gewesen und diente nun als Treffpunkt für die radikalsten Vertreter der
Revolution. Desmoulins war oft dort und saà im Café Foy. Ebenso Danton. Er war
überall, wo es gutes Essen und hübsche Frauen gab. Ich sah, wie Marat und
Hébert ihre Gazetten verteilten, wie sie mit dem einen flüsterten, während sie
auf einen anderen mit dem Finger zeigten. Jeder konnte hier sagen, was er
wollte. Hier durfte man sogar so weit gehen, den König einen Esel und die
Königin eine Hure zu nennen, ohne etwas befürchten zu müssen, denn das Palais
gehörte dem reichen und mächtigen Herzog von Orléans, und der fühlte sich
niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig.
Ich wusste, dass ich Geld verdienen konnte, wenn ich
dort Stücke von Molière, Voltaire und Shakespeare vortrug, aber lange Zeit
wagte ich mich nicht hin. Ich erinnerte mich, wie der Herzog von Orléans in der
Grotte in Versailles gesessen hatte â ein Mann hinter einer Wolfsmaske. Ich
erinnerte mich an seine Warnung, an seine pechschwarzen Augen, und hielt mich
fern, weil ich nie mehr in diese Augen blicken wollte. Aber dann wurden Bette
und ihr Baby sowie meine Mutter krank, und all das Geld, das wir in Versailles
verdient hatten, ging für die Bezahlung der Ãrzte drauf, und ich hatte keine
andere Wahl.
In dem Palais herrschte ein so gesetz- und zügelloses
Treiben wie immer, es war voller Missgeburten und Feuerspeier, voller Spieler,
Huren und Bohemiens. Jeden Abend trat ich in Reithosen und mit Mütze in den
Höfen auf. Wie ein Jäger nahm ich meine Beute ins Visier und stellte ihr nach.
Ich mied alle lächelnden Personen und überlieà Trunkene und Liebespaare ihrem
Schwelgen. Glück brachte mir nichts ein. Kummer und Herzeleid füllte meine
Börse. Welcher glückliche Mensch braucht schon Shakespeare?
Meine Rollen passte ich meinem Publikum an. Ich sprach
Hamlet für grüblerische Anwälte. Gab den Figaro für aufstrebende Beamte. Und
einmal rezitierte ich Tartuffe, als ich einem Bischof in ein Bordell folgte,
was mir einem wahren Geldregen von Seiten der dort wohnenden Damen eintrug.
Ein andermal näherte sich ein ergrauter Herr in
Trauerkleidung der Ecke, an der ich auftrat. Seine Augen waren zu Boden
gesenkt, seine Schultern gebeugt. Ich unterbrach meine Molière-Rezitationen und
trug König Lears Monolog vor â den dieser nach dem Tod seiner geliebten
Cordelia hält. Zuerst versuchte der Mann, mir auszuweichen, aber dann blieb er
stehen und hörte, von den Worten bewegt, zu. Tiefe Falten des Schmerzes zeigten
sich auf seinem alten Gesicht. Tränen traten in seine milchigen Augen. Als ich
geendet hatte, regnete es Münzen in meine Mütze.
Wieder ein andermal trat ein Mädchen aus dem Laden des
Schuhmachers Gaudet heraus. Zwei Frauen â die Mutter und die Tante, nach ihrem
Aussehen zu schlieÃen â gingen wie Gefängniswärter neben der jungen Frau her.
Ihr Blick war zu Boden gerichtet, ihr Gesicht eine starre Maske. Sie trug eine
hübsche Schachtel in den behandschuhten Händen. Ein Paar Satin-Pumps â passend
zu ihrem Hochzeitskleid, nahm ich an. Sie war nicht älter als fünfzehn und
vermutlich noch nicht lange aus dem Kloster heraus. Wahrscheinlich in ihren
hübschen Musiklehrer verliebt, aber einem wurstfingrigen Wüstling versprochen,
drei Mal so alt wie sie.
Ich löste mein Haar, steckte eine Blume hinters Ohr und
war Julia. Ich lief zu dem Mädchen hinüber. Die Mutter versuchte, mich
wegzuscheuchen, aber ich packte seine Hand. Gib mir meinen Romeo, sagte ich,
und stirbt er einst, nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn. Er wird des
Himmels Antlitz so verschönen, dass alle Welt sich in die Nacht verliebt, und
niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.
Nach diesen Worten verzog sich das Gesicht des
Mädchens. Bevor das Ungeheuer von einer Mutter sie aufhalten konnte, griff sie
in ihre Börse und warf mir eine Münze zu. Es war ein Akt der Rebellion. Ihr
erster und einziger. Ich fing die Münze auf und verbeugte mich vor ihr. Sie
lächelte mich durch einen Tränenschleier an, und ich wusste, dass sie diese
Worte nie vergessen und in den folgenden Jahren â während ihr alter Ehemann neben
ihr schlief, schnarchte, furzte und von seinen Konten murmelte
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