Das Blut der Lilie
â aus dem
Fenster ihres Schlafgemachs zu den Sternen hinaufblicken und an sie
zurückdenken würde.
Mit dem Geld, das ich verdiente, wurden Brot und Butter
gekauft, Zwiebeln, Wein und Hühner â und das Holz für den Herd. Damit bezahlten
wir Kräuter, um Fieber zu senken, Schmerzen zu stillen und Eiter zu lösen.
Meine Mutter überlebte ihre Krankheit. Auch meine Schwester, ihr Kind
allerdings nicht.
Auf den November folgte der Dezember und danach das
neue Jahr â 1790. Es gab
Abende, da bekam ich nichts, keinen Sou, denn es war kalt und unfreundlich, und
die Leute blieben zu Hause. Doch auch in diesen Nächten spielte ich. Obwohl
niemand mir zuhörte, niemand mich bezahlte.
In diesen Nächten waren die Verse für mich allein. Sie
stiegen unwillkürlich in meinem Herzen auf, glitten über meine Zunge, strömten
aus meinem Mund. Und ihretwegen war ich â ein Nichts und Niemand â der Prinz
von Dänemark, das Mädchen aus Verona, die Königin von Ãgypten. Ich war ein sauertöpfischer
Misantrop, ein ränkesüchtiger Heuchler, die Tochter eines Zauberers, ein
wahnsinniger, blutrünstiger König.
Es war dunkel und kalt in diesen Nächten. Die Welt war
abweisend und ich hungrig. Doch ich hatte solche Freude an den Worten. Solch
überbordende Freude.
Es gab Momente, da hob ich das Gesicht zum Himmel, breitete
die Arme in der Winternacht weit aus und lachte laut heraus, so glücklich war
ich.
Wenn ich mich jetzt daran erinnere, muss ich wieder
lachen, aber nicht vor Glück.
Sei vorsichtig, was du der Welt zeigst.
Du weiÃt nie, wann dich der Wolf beobachtet.
Ich lege das Tagebuch weg, weil ich sie wieder vor mir sehe.
Alex. Sie spielt in einer dunklen kalten Nacht Hamlet, Julia und Kleopatra in
einem leeren Hof. Ihr Atem steigt wie weiÃer Rauch in die Luft, als sie bis auf
den Tod mit Laertes kämpft oder mit Romeo tanzt. Ihre blassen Wangen glühen.
Sie ist dünn und zerlumpt, und dennoch geht ein heller Glanz von ihr aus.
Ich zeichne mit den Fingern die geschriebenen Worte nach.
Worte, die schnell hingekritzelt sind. Auf der Flucht. Als sie verletzt und
verängstigt war und sich in den Katakomben versteckte.
Wie war es wohl, dort unten zu sein? Allein und voller Angst
in der Kälte und Dunkelheit, von nichts und niemandem umgeben als den Toten.
Ich war noch nie in den Katakomben. Ich weià nicht, ob die Gänge breit oder
schmal sind. Ob man aufrecht darin stehen kann oder kriechen muss.
Und plötzlich möchte ich dorthin. In die Katakomben. Ich
möchte dort sein, wo sie war. Wie ich nach Trumans Tod in seinem Zimmer sein,
auf seinem Bett sitzen und seine Sachen betrachten wollte. Wie ich, nachdem
mein Vater fortgegangen war, in seinem Arbeitszimmer sitzen und dem Ticken der
Uhr auf seinem Schreibtisch lauschen wollte. Wie ich, nachdem meine Mutter zu
sprechen aufgehört hatte, in der Küche stehen und ihre Schürze ans Gesicht
drücken wollte.
Ich frage mich, ob Alex dort unten in den Katakomben
gestorben ist. G. sagte, der Arbeiter habe die alte Gitarre unter einem Haufen
von Skeletten gefunden. War eines davon ihres? Wie sah ihr Ende aus? Starb sie
in den dunklen Gängen der Katakomben? Auf der Guillotine? Oder ist sie
entkommen?
Eine winzige, schnelle Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit.
Ich blicke auf. Ein Spatz ist auf dem Tisch neben mir gelandet. Er reckt den
Kopf, starrt mich mit glänzenden schwarzen Augen an, bis eine Frau, die dort
sitzt und in ihr Handy quasselt, ihn bemerkt und mit der Speisekarte nach ihm
schlägt. Er fliegt weg.
»Möchten Sie noch etwas, Mademoiselle?«, fragt der Kellner.
»Ein Croissant? Eine Tartine?«
»Nein, danke«, antworte ich, nehme meine Börse aus der Tasche
und stehe auf.
Ich muss mich auf die Socken machen. Der Eingang zu den
Katakomben ist auf der anderen Seite des Flusses. Ich muss den ganzen Weg bis
dorthinüber laufen, die Tunnel durchqueren und danach rechtzeitig in der Bibliothek
zurück sein, um Yves Bonnard zu überreden, mich wieder einzulassen. Ich stecke
das Tagebuch ein, nehme zwei Euro aus meiner Börse und gebe sie dem Kellner.
Dann greife ich mir meine Sachen und ziehe los. Von irgendwo über mir höre ich
einen Vogel singen.
  37 Â
Die Katakomben sind nicht leicht zu finden. Man könnte
meinen, es handelte sich um einen geheimen Ort.
Ich bin aus der Métro-Station Denfort-Rocherau
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