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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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groben
Entwurf, und danach habe ich an der Einleitung gearbeitet.
    Ich denke, dass ich es schaffen werde. Morgen Abend werde ich
mit beidem fertig sein – und Dad bleibt dann noch genügend Zeit, alles zu lesen
und abzusegnen.
    Jetzt wünsche ich ihm gute Nacht, packe meine Sachen zusammen
und gehe in mein Zimmer. Sobald ich dort bin, kippe ich den Inhalt meiner
Tasche aufs Bett und suche nach Virgils CD . Seit
er sie mir bei den Katakomben zugeworfen hat, bin ich gespannt, sie zu hören.
Vorhin habe ich gleich Lili gefragt, ob sie einen CD -Player
hat, und sie hat mir einen alten Discman gegeben.
    Ich lege die CD ein und drücke
auf Play. Eine Stimme erklingt, eine einsame Männerstimme, und singt eine Art
afrikanischen Song. Die Stimme tritt in den Hintergrund, Trommeln setzen ein,
dann singen viele Stimmen, etwa hundert, denselben Song und Virgil setzt mit
seinem Rap ein. Es ist gut. Wirklich gut. Gänsehautmäßig gut.
    Der nächste Song ist über Amerika, irgendein Rapper
verspricht, es im Sturm zu erobern. Banloser ist ebenfalls drauf,
klingt aber anders als neulich Nacht – wesentlich glatter. Ein Song heißt I’m Shillin’ und handelt davon, wie man sich selbst untreu wird. Ein anderer trägt den Titel Morning Light und
beschreibt, wie es ist, auf dem Hügel von Sacré-Cœur die Sonne aufgehen zu
sehen. Ich erkenne ihn wieder. Letzte Nacht hat Virgil ihn mir vorgesungen.
    Die Texte sind stark und die Musik sogar noch stärker. In
einem Song greift er auf eine Reggae-Gitarre zurück. In einem anderen auf
Siebziger-Jahre-Funk. Es gibt Samples von amerikanischen Gospelsongs. Eine
Sitar. Den Ruf eines Muezzins. Französische Schüler, die Kinderlieder singen.
Eine chinesische Violine. Songs, die die ganze Welt in sich tragen, wie er
gesagt hat.
    Sobald die CD zu Ende ist, nehme
ich mein Handy. Um ihn anzurufen und ihm zu sagen, wie sehr mir seine Songs
gefallen.
    Â»Was?«, bellt er.
    Â»Ã„hm, hallo. Ich bin’s, Andi«, melde ich mich ein wenig
unsicher.
    Â»Hallo. Bleib einen Moment dran.«
    Ich höre Bremsen quietschen, dann schimpft Virgil los und rät
einem Typen, etwas zu tun, was physisch unmöglich ist.
    Â»Tut mir leid«, sagt er zu mir.
    Â»Schlimmer Tag?«
    Â»Entsetzlich. Diese verdammte Stadt ist heute Abend total außer
Rand und Band. Kann ich dich zurückrufen? In einer halben Stunde?«
    Â»Sicher. Ja.«
    Ich lege auf und starre an die Decke, unschlüssig, was ich
tun soll, während ich warte. Ich bin irgendwie hungrig. Seit dem Abendessen
habe ich nichts mehr zu mir genommen. Ich könnte in die Küche gehen. Etwas von
den übrig gebliebenen Thai-Rollen essen. Eine Orange. Ein Stück Käse. Ich
könnte mich waschen und bettfertig machen. Was keine schlechte Idee wäre, da
morgen Samstag ist und noch eine Menge Arbeit vor mir liegt. Ich habe vor,
Malherbeaus Haus zu besuchen und weitere Fotos zu machen. Und ich muss eine
zweite Fassung meines Entwurfs schreiben.
    Mein Blick wandert zu meinem Bett und zu den Sachen, die ich
dort ausgekippt habe. Das Tagebuch liegt da, unter meinen Schlüsseln. In dieser Nacht sollte
ich nicht sterben. Das wäre einer Begnadigung gleichgekommen. Ich sollte
wiedergeboren werden, schrieb Alex. Wiedergeboren als was? Um was
zu tun?
    Einerseits möchte ich weiterlesen, andererseits lieber nicht.
Ich bin neugierig und habe gleichzeitig Angst. Ich muss herausfinden, was Alex
passiert ist, und Louis Charles – aber was, wenn ich wieder ausflippe? Wie in
den Katakomben?
    Ich lasse das Tagebuch liegen und gehe ins Badezimmer. Es ist
nicht das Tagebuch, das den Anfall ausgelöst hat, sage ich mir beim
Zähneputzen. Weil das nicht möglich ist. Es ist nur ein Tagebuch. Worte auf
Papier. Mehr nicht. Es lag an den Tabletten. Ich muss einfach endlich
begreifen, dass ich schlichtweg zu viele nehme.
    Ich gehe in mein Schlafzimmer zurück, nehme das Fläschchen
vom Nachttisch und schüttle zwei Pillen heraus. Ich möchte die Dosis
verringern. Das macht mich jedoch nervös. Während der letzten Tage war ich
ziemlich ruhig und stabil. Zumindest was die Traurigkeit anbelangt. Ich habe
zwar Dinge gesehen und gehört, mich aber nicht mehr plötzlich an irgendwelchen
Abgründen wiedergefunden. Weder an der Seine noch auf irgendjemandes Dach. Ich
will nicht wieder in dieses dunkle Loch fallen. Aber ich will auch keine
flüsternden Schädel mehr

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