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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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treffen, keine kreischenden Puppen und keine alten
Typen, die sich vor meinen Augen in junge Männer verwandeln.
    Ich stehe hier und versuche, mich zu entscheiden. Eine
Orange? Etwas Käse? Ins Bett? Das Tagebuch? Suizidale Anfälle oder
Halluzinationen? Zwei Pillen? Oder nur eine?
    Ich schlucke eine und gebe die andere zurück in das
Fläschchen.
    Vielen Dank, ich nehme das Tagebuch. Ohne alles, bitte, und
lassen Sie auch den Irrsinn weg.
    Â Â 41  

    12. Mai 1795
    Nur die Hoffnungslosen lieben Gott.
    Haben Sie je ein schönes Mädchen gesehen, das einen Augenblick
länger als nötig in der Messe verweilt? Kniet ein reicher Mann sich nieder,
wenn keiner ihn beobachtet?
    Die Hässlichen, die Fetten, die Armen und Stinkenden.
Leprakranke, denen Körperteile abfaulen. Die mit übelriechendem Atem und
Pockennarben. Stotterer. Sabbernde und Zuckende. Irre. Skrofulöse. Keiner liebt
sie, nicht einmal ihre Mütter, doch gerade sie werden – mit verzückter Stimme –
sagen, Gott liebt mich. Sie sehnen sich so verzweifelt nach Liebe, nach irgendeiner
Liebe, dass sie sich selbst mit seinen mageren Gaben zufriedengeben.
    Sie werden fragen, warum ich es tat. Sie werden mich
verurteilen. Aber nur eine Heilige hätte anders gehandelt, und ich bin keine
Heilige.
    Ich hatte es satt – Gottes endloses Schweigen. Ich
wollte Lärm. Applaus, der anschwillt wie ein Wirbelsturm. Pfiffe und Rufe und
laute Bravorufe. Das Prasseln von Rosen, die auf die Bühne regnen.
    Ich wollte nicht Gottes kalte Liebe. Ich wollte
menschliche Liebe – gierig, selbstsüchtig und heiß. Ich wollte die Geilheit der
gröhlenden und stampfenden Männer im Parterre riechen und das schwere Parfüm
der teuren Huren in den Logen. Ich wollte, dass Fischweiber ihre Brüste
entblößten und Händler ihre Börsen warfen. Ich wollte dampfende, trunkene,
hungrige Liebe.
    Welcher Schauspieler will das nicht?
    Doch wie war es mir vorher ergangen – bevor mich der Teufel
ins Visier nahm. Bevor der Herzog von Orléans mich zu seinem Werkzeug machte:
    Ich stand allein auf der Bühne des schäbigen Theater
Beaujolais, den Kopf gesenkt, und strich über eine Schwiele in meiner Hand. Ich
war meinem Onkel und seinen verdammten Marionetten entkommen, um hier zu
landen. Gerade hatte ich Audinot, dem Prinzipal, die Julia vorgetragen. Mein
Vortrag war gut gewesen. So gut, dass die Souffleuse zu essen aufhörte. Die
Bühnenarbeiter zu hämmern. Und der Beleuchterjunge im Schnürboden oben weinte.
Aber das zählte nicht. Es zählte nie.
    Sie ist nicht hübsch, sagte Audinot. Und sie hat keinen
Busen.
    Dabei versuchte er nicht einmal, seine Stimme zu
senken. Ich hasste ihn dafür.
    Sie spricht gut und ihr Ausdruck ist höchst gefühlvoll,
sagte der Lakai neben ihm.
    Das Parterre zahlt nicht für gefühlvolle Mädchen. Nur
für hübsche, antwortete Audinot. Er lächelte mich an, ölig wie eine Makrele.
Danke, Mademoiselle. Die Nächste!
    Doch wie anders sollte es mir später ergehen, sagte er!
In einem, vielleicht zwei Jahren. Wenn die Revolution, der Wahnsinn, vorbei und
der König wieder in Versailles wäre. Das war es, was der Herzog von Orléans mir
versprach, wenn ich auf seine Bitte einginge …
    Ein Ruf des Nationaltheaters würde ergehen, gerichtet
an Alexandre Paradis, denn Alexandrine gäbe es nicht mehr. Niemand würde ihr
nachtrauern, am wenigsten ich selbst, denn Alexandre wäre ein viel hübscherer
Junge als Alexandrine es als Mädchen gewesen war. Anfangs bekäme ich kleine
Rollen – Diener und Soldaten, Narren und Totengräber-, dann den Cherubin im
Figaro, und damit gute Kritiken. Der Herzog von Orléans selbst würde dafür
sorgen. Als Nächstes würde ich Shakespeares Thybalt spielen. Claudio und
Ferdinand. Dann den Damis in Tartuffe . Rodrigo in El Cid . Bis ich
eines Abends im Schein der Rampenlichter stünde und donnernden Applaus erhielte
für meinen Romeo. Die Leute würden stampfen und jubeln – ganz ohne dafür
bezahlt worden zu sein. Im Parterre würde ein Mann erdrückt, in den Logen
würden Frauen in Ohnmacht fallen. Am nächsten Tag schriebe ein Kritiker, meine
Natürlichkeit könne es selbst mit dem großen Talma aufnehmen. Ein anderer,
meine Leistung sei unerreicht in der Theatergeschichte. Ein dritter würde mich
mit einem jungen Gott vergleichen.
    Mitten

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