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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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gelingt, werde ich so viele von Malherbeaus
Unterlagen fotografieren, wie ich kann, dann gehe ich zu G. zurück und arbeite
an meiner Gliederung. Und alles wird gut.
    Während ich den Abfall von meinem Mittagessen zusammenpacke,
wackelt auf unsicheren Beinchen ein kleines Mädchen auf mich zu. Die Mutter
ruft dem Kind zu, dass es zurückkommen soll. Schwankend bleibt es stehen, als
müsse es sich erst noch daran gewöhnen, seinen Beinen zu vertrauen.
    Das Kind sieht mich mit großen ernsten Augen an, macht dann
ein paar vorsichtige Schritte in meine Richtung und streckt mir eine Faust
entgegen. Es hält etwas fest darin.
    Â»Hallo«, sage ich. »Was hast du denn da?«
    Das Mädchen öffnet nacheinander die Finger, bis ich sie in
seinem kleinen Patschhändchen erkennen kann.
    Eine kleine braune Feder. Von einem Spatzen.
    Â Â 40  
    Â»Heute hat mich Dr. Becker angerufen«, sagt Dad.
    Ich bin gerade damit beschäftigt, Beethoven mittels Photoshop
    einen Nasenring anzuhängen, und blicke auf.
    Â»Was hat er gesagt?«
    Â»Dass es deiner Mutter ein bisschen besser geht. Sie verträgt
die neuen Medikamente. Sie isst und nimmt an der Gruppentherapie teil.«
    Â»Hat er gesagt, ob wir sie schon anrufen können?«
    Â»Er meinte, wir sollten noch einen oder zwei Tage warten.«
    Â»Okay«, antworte ich umgänglich.
    Sicher. Warum auch nicht? Ich werde zwei Tage warten –
Samstag und Sonntag. Aber am Montag bin ich in der Klinik. Und dann wird Dr.
Becker jeden Sicherheitsmann brauchen, um mich davon abzuhalten, mit ihr zu
sprechen.
    Â»Wie läuft es mit deinem Entwurf, Andi?«, fragt er. »Machst
du irgendwelche Fortschritte?«
    Â»Ja. Ich habe einen ersten Entwurf. Ich muss noch daran
feilen, aber es ist ein Anfang. Und ich habe schon einen großen Teil der
Einleitung«, antworte ich lächelnd.
    Â»Das ist großartig«, sagt er und erwidert mein Lächeln.
    Â»Ja«, sage ich. »Wie läuft es mit den Tests?«
    Â»Recht gut, in der Tat. Am Montag erwarten wir die
Ergebnisse.«
    Â»Cool«, erwidere ich und lächle so angestrengt, dass mir das
Gesicht weh tut.
    Â»Am Mittwoch gibt es ein Dinner. Im Elysée-Palast. Du kannst
mitkommen, wenn du willst«, sagt Dad.
    Â»Wow. Ja. Es ist nur so, dass ich für Samstagabend ein
Flugticket habe. Schon vergessen?«
    Â»Ah ja. Richtig. Bist du bis dahin mit deinem Entwurf
fertig?«
    Â»Sicher.«
    Â»Und wird er auch gut?«
    Â»Ich denke schon.«
    Er nickt und wendet seine Aufmerksamkeit wieder seinem Laptop
zu. Ich dem meinen. Dad ist heute Abend früh heimgekommen. Wir haben etwas beim
Thai bestellt und gemeinsam mit Lili gegessen. Danach ist sie in ihr Atelier
gegangen, und Dad und ich haben den Esstisch in Beschlag genommen. Jetzt sitzt
er an einem Ende und ich am anderen. Stundenlang haben wir hier schweigend
gearbeitet. Ohne zu streiten. Was gut ist. Ich muss nur noch heute Abend,
morgen und Sonntag ohne weiteren Wutausbruch durchstehen.
    Ich bin mit dem Nasenring fertig und beschließe, Ludwig auch
grüne Haare zu verpassen. Es steht ihm. Das wird sich gut als Hintergrundbild
in der Einleitung machen. Aus dem Allegretto seiner 7. Symphonie habe ich
bereits die Takte entnommen, die ich brauche, und mit einem Teil von Paint It Black der Stones vermischt, um ein Beispiel für meine Prämisse zu liefern. Es illustriert
auf hübsche Weise eine a-Moll- E 7/ C - G 7-Parallele. Außerdem
habe ich mich mit meiner Handykamera gefilmt, während ich erklärt habe, wie Malherbeaus
Verwendung von a-Moll in einigen seiner früheren Werke wahrscheinlich das
Allegretto beeinflusste. Den Clip habe ich an meine E -Mail-Adresse
geschickt und in PowerPoint abgespeichert. Die Qualität lässt ein bisschen zu
wünschen übrig, reicht aber aus, um es Dad vorzuführen. Wenn ich wieder zu
Hause bin, werde ich das Ganze mit der Video-Ausrüstung von St. Anselm noch
einmal neu aufzeichnen.
    Ich bin fertig mit Ludwig und logge mich aus. Ich habe
gearbeitet wie eine Wahnsinnige, seit ich Yves Bonnard überreden konnte, mich
wieder in die Bibliothek zu lassen. Ich flehte ihn geradezu an und versprach
bei meinem Leben, dass ich auf die anderen Rücksicht nehmen und nicht mehr
stören würde. Den ganzen Nachmittag fotografierte ich Malherbeaus Papiere und begann
gleich nach dem Abendessen mit meiner Skizze. Gegen acht hatte ich einen

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