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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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im Dezember stünden Blumen in meiner Garderobe.
Kuchen und Wein. Ein Ring von Boehmer. Damen und Herren kämen herein, um mir
beim Abschminken zuzusehen. Würden mir Münzen zustecken und mich küssen. Es
gäbe Heiratsanträge. Und andere Angebote, aber ich würde Benoît dafür bezahlen,
mich zu beschützen. Er säße in einem Sessel, ein Bein über die Lehne gelegt.
Wir würden uns als Pärchen ausgeben und die Platzanweiser bezahlen, um
Geschichten unserer Unzucht und Streitigkeiten zu verbreiten. Und ich, die ich
im Moment noch hungrig und frierend war, äße Kapaun und schliefe in einem
Federbett.
    Ich hatte versucht, gut zu sein. Gottesfürchtig zu
sein. Aber ich hatte es so satt, übergangen zu werden.
    Klage Gott deinen Kummer. Schrei ihn zum Himmel hinauf.
Zerreiß dein Hemd, dein Fleisch, rauf dir das Haar. Kratz dir die Augen aus.
Schneid dir das Herz aus dem Leib. Und was bekommst du von Gott zurück? Nur
Schweigen. Gleichgültigkeit.
    Aber sobald du seufzend vor den Theaterplakaten stehst,
weil dein Name nicht darauf ist, taucht der Teufel höchstpersönlich voller
Mitgefühl neben dir auf.
    Und deswegen habe ich es getan. Deswegen diente ich
ihm. Deswegen blieb ich.
    Weil Gott uns liebt, der Teufel sich jedoch um uns
kümmert.
    13. Mai 1795
    Die Königin erkannte mich nicht. Auch ich erkannte sie
kaum wieder. Erst ein Jahr war vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen
hatte, dennoch schien sie um zwanzig Jahre gealtert. Ihr blondes Haar war weiß,
ihr Gesicht hager, und tiefe Falten umgaben ihre Augen.
    Ich wurde vom Aufseher der Tuilerien in ihre Gemächer gebracht.
Er informierte sie, dass dem Dauphin ein neuer Page zugeteilt worden sei. Sie
schenkte dem Mann einen verächtlichen Blick und fragte ihn nach meiner Familie.
Er erklärte ihr, dass ich von guter republikanischer Herkunft sei und die Menschenrechte
und meine Pflichten kenne. Darauf drehte er sich auf dem Absatz um.
    Majestät, ich bin es, Alex, flüsterte ich, nachdem er
die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.
    Sie sah mich erneut an. Ihre Augen wurden größer. Sie lächelte.
Ich sagte ihr, dass ich viele Male versucht hätte, Louis Charles zu besuchen,
aber immer abgewiesen worden sei. Ich hätte aber nie aufgegeben und schließlich
eine Möglichkeit gefunden, auch wenn es lange gedauert habe. All dies sagte ich
ihr, so wie man es mir aufgetragen hatte.
    Sie rief nach Louis Charles. Er erkannte mich auf der
Stelle, lief auf mich zu, küsste mich und klammerte sich an meinen Hals. Ich
drückte ihn fest an mich, hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. Die Königin
lachte. Dass er glücklich war, machte auch sie froh. Von dem Moment an
verbrachten wir jeden Tag zusammen. Ich erledigte meine Pflichten – half Louis
Charles beim Aufstehen und Ankleiden, bediente ihn beim Essen und hielt Ordnung
in seinen Gemächern. Aber hauptsächlich sang ich Lieder für ihn, erzählte ihm
Geschichten und spielte mit ihm, wie ich es in Versailles getan hatte. Er war
einsam und deshalb sehr glücklich über meine Gesellschaft.
    Ich liebe dich, Alex, gestand er mir, als wir mit den
Zinnsoldaten spielten. Du darfst mich nie mehr verlassen.
    Ich liebe dich auch, Louis Charles, antwortete ich. Ich
werde dich nie mehr verlassen. Das verspreche ich.
    Dieses Versprechen habe ich gehalten. Denn ich liebte
ihn. Fast zwei Jahre lang verbrachte ich fast jede Stunde mit ihm. Bis er mir
weggenommen wurde. Aber ich habe ihn nie verlassen. Und werde es nie tun.
    Der Herzog von Orléans hatte mir diese Stelle gekauft.
Er bestach den Aufseher der Tuilerien. Sagte ihm, ich sei sein illegitimer Sohn
und er wolle mir helfen, meinen Weg zu gehen in der Welt. Er versicherte dem
Mann, dass ich ein guter Republikaner und Jakobiner sei. Wie er selbst.
    Ich sollte im Palast Augen und Ohren offen halten. Ich
sollte dorthin gehen, wo er – inzwischen ein Revolutionär, der sich vom König
distanziert hatte – keinen Zutritt mehr hatte, und ihm alles erzählen, was ich
aufschnappte. Was machte der König an diesem oder jenem Tag? Wen empfing er? An
wen schrieb die Königin? Wer unterrichtete den Dauphin? Trafen Geschenke für
ihn ein? Gerüchte schwirrten durch Paris – man flüsterte von Gegenrevolution,
von ausländischen Intrigen, von Komplotten, um den König zu befreien.
    Ich sollte der Spion des Herzogs sein.
    Warum ich?, fragte ich ihn

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