Das Blut der Lilie
mit leeren, blicklosen Augenhöhlen.
Die Stimmen, die ich gehört habe, werden lauter, drängender.
Ich rede mir ein, dass es die Katakomben-Besucher vor mir sind. Oder das
Geräusch von tropfendem Wasser. Ich habe feuchte Stellen auf dem Boden gesehen
und Tropfen an den Wänden. Aber hier sind keine Menschen. Und die Wände sind
trocken. Und dann wird mir klar, was es ist â es sind die Schädel. Sie flüstern
mir zu.
»Ich möchte den Regen wieder spüren«, sagt einer, direkt
neben mir.
»Ich möchte Melonen schmecken. Von der Sonne gewärmt« â ein
anderer.
»Ich möchte meinen Mann lachen hören. Seine Haut auf meiner
spüren.«
Immer mehr fallen ein, bis ein einziger, trauriger
Sehnsuchtschor entsteht. Sie möchten gebratenes Hähnchen. Seidenkleider.
Limonade. Rote Schuhe. Den Duft der Pferde riechen.
Ich verliere den Verstand. Das wird es ein. Da fegt ein
Windstoà durch den Tunnel, was unmöglich ist, weil wir uns fünfundzwanzig Meter
unter der Erde befinden, und ich nehme einen seltsamen Geruch wahr, würzig und
stark â Nelken. Jetzt drehe ich völlig durch. Die Stimmen sind in meinem Ohr,
und der Geruch in meiner Nase ist so stark, dass er mich zu ersticken droht.
»Hilf mir«, sage ich. »Bitte.«
»Mademoiselle? Entschuldigen Sie, Mademoiselle, aber Sie
dürfen sich nicht in diesem Bereich aufhalten.«
Ich drehe mich um. Ein Sicherheitsmann steht im Tunnel und
richtet das Licht seiner Taschenlampe auf mich.
»Mademoiselle? Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt er.
»Ich glaube nicht.«
Er kommt zu mir und nimmt meinen Arm. »Hier entlang«, sagt
er. »Stützen Sie sich auf mich, wenn nötig.«
Das ist tatsächlich nötig. Ich stolpere neben ihm her, und
nach ein paar Minuten sind wir zurück an der Gabelung. Er schwingt ein
Metallgitter vor den Tunneleingang und sperrt es ab. Daran hängt ein rot-weiÃes
Schild mit der Aufschrift GENERATOREN-RAUM â ZUGANG NUR
FÃR PERSONAL . Diese Tür hatte ich vorhin überhaupt nicht gesehen.
»Tut mir leid. Ich ⦠ich ⦠habe keine Luft mehr bekommen«,
sage ich verlegen.
Er lächelt. »Das kommt vor. Manche Menschen reagieren heftig.
Ihnen wird schlecht, sie werden ohnmächtig oder verlieren die Orientierung. Auf
Manche wirkt dieser Ort sehr bedrückend.«
Aber es hat nichts mit der Luft zu tun. Ich habe gelogen. Es
ist Alex. Sie wollte, dass ich dorthin gehe. In diesen Tunnel. Sie wollte, dass
ich ihr folge. Sie finde.
Der Sicherheitsmann bringt mich in den richtigen Gang zurück
und führt mich zu einem Klappstuhl. An der Wand hängt ein Erste-Hilfe-Kasten
neben einem Telefon. Er rät mir, mich ein paar Minuten zu setzen. Das mache
ich, den Kopf in die Hände gestützt.
Es sind die Tabletten, das Qwell. Das wird es sein. Ich habe
zu lange zu viel genommen, die Wirkung hat sich mit der Zeit potenziert und
macht mich jetzt total fertig. Lässt mich Dinge sehen und hören. Auf der Henry
Street. Auf dem Quai. Und nun hier in dieser durchgeknallten Horrorszenerie. Es
bringt mich dazu zu glauben, ich hätte irgendeine verrückte Verbindung zu einem
toten Mädchen.
Der Sicherheitsmann lässt mich noch eine Weile sitzen, dann
begleitet er mich den restlichen Rückweg durch den Tunnel und die Treppe zum
Ausgang hinauf.
»Ich raten Ihnen, etwas Wasser zu trinken, wenn Sie drauÃen
sind. Und etwas zu essen«, sagt er.
Ein anderer Sicherheitsmann durchsucht meine Tasche, um
sicherzugehen, dass ich keine Souvenirs eingesteckt habe. Als hätte mir danach
der Sinn gestanden. Und dann bin ich drauÃen. Ãber der Erde. Zurück unter den
Lebenden.
Ich besorge mir sofort eine Käse-Crêpe und eine Flasche
Wasser, lasse mich in einem Park auf einer Bank nieder und esse. Als ich fertig
bin, schlieÃe ich die Augen und hebe mein Gesicht zur Sonne. Hole ein paar Mal
tief Luft. Nach einer Weile fühle ich mich besser. Ruhiger. Was in den
Katakomben passiert ist, war bloà eine seltsame Reaktion, die von zu vielen Tabletten
herrührt. Wie andere seltsame Dinge, die mir kürzlich passiert sind. Ich muss die
Qwellify-Dosis runterschrauben. Weniger nehmen. Und das werde ich auch. Ab
heute Abend.
Ich öffne die Augen und sehe auf die Uhr. Es ist zehn nach
eins. Ich muss los, zum Archiv zurück und dort Yves Bonnard untertänig um
Verzeihung bitten. Wenn mir das
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