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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Familienmitglied durch die
Guillotine verloren hatten. Tänzerinnen trugen das Haar kurz geschnitten wie
die Verurteilten, und schlangen sich rote Bänder um den Hals, um zu zeigen, wo
das Beil gefallen war. Einige dieser Bälle wurden sogar in den Katakomben
abgehalten.
    Ich sehe mich nach weiteren Informationen um, um
herauszubekommen, ob sich während der Revolution Leute in den Katakomben
versteckten, denn ich hoffe, einen Hinweis auf ein verrücktes Mädchen zu
finden, das sich als Junge verkleidete, Feuerwerke zündete und ein Tagebuch
führte. Aber nichts.
    Die Ausstellungsräume sind zu Ende. Ein Schild an der Wand
weist den Weg zu den Ossuarien und erklärt, dass im Fall eines Stromausfalls
die Notbeleuchtung angeschaltet wird und den schwarzen Streifen an der Decke
des Tunnels zum Ausgang zu folgen ist.
    Ich gehe weiter, hinter einem älteren Ehepaar, einer Gruppe
Teenager und den Amerikanern her, und komme in einen niedrigen Korridor, einen
früheren Steinbruch. Es ist kalt, und ich muss mich ducken beim Gehen. Nach
einigen Metern bin ich in der Port-Mahon-Galerie, wo ein Grubenarbeiter, der in
der Armee von Ludwig XV . diente, das Modell jener
Festung in die Wand geschnitzt hat, in der er einst als Gefangener festgehalten
worden war. Als Nächstes passiere ich das Fußbad der Grubenarbeiter – einen
tiefen Brunnen mit klarem Grundwasser – und komme schließlich zum Eingang der
Grabstätten.
    Die Paneele zu beiden Seiten der Tür sind schwarz und weiß
gestrichen. Darüber steht eine Inschrift: Halt! Dies ist das Reich der Toten. Und plötzlich will ich zurück. Zurück durch den Ausstellungsraum, die Treppen
hinauf, ins Licht hinaus. Aber ich tue es nicht. Ich reiße mich zusammen, weil
ich wissen will, wie dieser Ort ist. Ich will wissen, wo Alex war.
    Ich trete durch die Tür. Und dann sehe ich sie – die Knochen.
Wand um Wand voller menschlicher Knochen. Der Anblick lässt mich erstarren.
Schädel sind auf Schädel gehäuft. Oberschenkelknochen auf Oberschenkelknochen.
Manche sind säuberlich aufgeschichtet. Andere zu dekorativen Mustern
verarbeitet – zu Streifen und Bändern, Kreuzen und Blumen. Es fühlt sich an,
als wäre ich unverhofft in den Keller eines Massenmörders gestolpert, der Sinn
für Inneneinrichtung hat.
    Die Leute um mich, die kurz zuvor noch gescherzt und
geplaudert hatten, sind jetzt still. Einige gehen in einer Art schweigsamer
Ehrfurcht herum. Andere ertragen es nicht und wollen zurück. Ich höre Schniefen
und Schluchzen. Ich drehe mich um und sehe, dass die Allzeitbereits doch nicht
auf alles vorbereitet waren. Die Mutter wirkt verstört. Wie es aussieht,
transportiert Mikrofaser nur Schweiß ab, nicht Todesangst.
    Ich gehe weiter. Die Tunnel scheinen kein Ende zu nehmen. Ich
gehe zehn, zwanzig, dreißig Minuten lang weiter, und immer gibt es noch mehr
Knochen. Es gibt auch Brunnen, Grabsteine, Kreuze und Obelisken. Gedichte und
Wehklagen. Es gibt Warnungen und Eisentore, um Besucher davon abzuhalten, den
falschen Weg einzuschlagen. Schilder erklären, dass die Gebeine vom Friedhof
der Unschuldigen oder vom Friedhof Saint-Nicolas stammen, aber sie erklären
nicht, warum es so viele sind.
    Wer waren sie alle?
    Ich gehe weiter. Und bin wahrscheinlich zu langsam und lasse
mir zu viel Zeit, denn alle anderen sind weit vor mir. Ich bin ganz für mich,
und es ist so still. Ich denke an Alex und wie es gewesen sein muss, hier unten
allein zu sein und nur das Licht einer Laterne bei sich zu haben. Der Gedanke
ist so schrecklich, dass ich meine Schritte beschleunige. Ein paar Minuten
später komme ich an eine Gabelung und weiß nicht, welchen Weg ich einschlagen
soll. Die schwarze Linie an der Decke biegt nach links ab, aber ich höre leise
flüsternde Stimmen aus dem Tunnel zu meiner Rechten, also gehe ich dorthin.
    Dieser Tunnel ist dunkler und schmaler. Die Knochen sind
näher um mich herum. Ich gehe an einem großen Schädel vorbei, der oben auf
einer Mauer sitzt, und plötzlich kann ich den Mann sehen, dem er gehörte. Es
ist ein großer, bulliger Metzger, der schlüpfrige Lieder singt, während er ein
Schwein zerhackt. Und der Schädel daneben mit der hohen Stirn gehörte einem
blassen, steifnackigen Schulmeister. Der darüber, der kleine, einem kleinen
Mädchen. Sie war hübsch mit rosigen Wangen und voller Leben. Ein Schädel nach
dem anderen,

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