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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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schäbigen Karre, die schnauft und
keucht und sogar noch verbeulter aussieht als bei unserer letzten Begegnung.
Lächelnd öffnet er mir die Beifahrertür. Ich erwidere sein Lächeln. Auf meinem
iPod läuft gerade Marry
Me von St. Vincent. Ich liebe diese CD .
    Â»Hey«, sage ich.
    Â»Hey«, sagt er und küsst mich auf die Wange.
    Er wartet, bis ich mich angeschnallt habe, dann legt er den
Gang ein, und wir fahren mit stotterndem Motor die stille, leere Straße
hinunter. Im Getränkehalter hängen zwei Becher Kaffee.
    Â»Ich dachte, du könntest einen brauchen. Bedien dich«, sagt
er.
    Ich danke ihm und greife zu. Der Kaffee ist schwarz, ohne
Zucker, genau wie ich ihn mag, zudem heiß und stark und wärmt mich auf.
    Â»Wie war die Nacht?«, frage ich.
    Er schüttelt den Kopf. »Darüber möchte ich lieber nicht
reden.«
    Â»Aha. So schön? Also, sagst du mir, wohin wir fahren?«
    Â»Klar.«
    Â»Echt?«
    Â»Wir fahren zum schönsten Platz von Paris«, antwortet er.
    Â»Cool«, sage ich. »Ich liebe diesen Platz.«
    Er lacht, und ich beschließe, nichts mehr zu fragen. Mich
einfach zurückzulehnen, meinen Kaffee zu trinken und zuzuhören, während St.
Vincent mir erzählt, dass die grünsten aller Weiden genau hier auf Erden sind.
    Â»Wie war deine Nacht?«, fragt er.
    Â»Kurz«, antworte ich.
    Er fragt, wie mir die Katakomben gefallen haben. Ich halte mich
eher bedeckt. Er will wissen, warum ich hingegangen bin, also erzähle ich ihm
von der Gitarre, dem Tagebuch und Alex. Was mich ein bisschen nervös macht,
weil es sich einigermaßen verrückt anhört, aber er findet das offensichtlich
nicht. Seiner Meinung nach hört sich das Ganze ziemlich cool an, und er stellt
eine Menge Fragen. Von meinen Halluzinationen erwähne ich allerdings nichts.
Auch nichts von ihrem Ursprung. Weil ich will, dass Virgil und ich eine Chance
haben. Unbedingt.
    Â»Irgendwann musst du da mal nachts mit mir runtergehen«, sagt
er. »Dann werde ich dir den Strand zeigen. Und den Bunker.«
    Â»Was bitte?«
    Â»Der Strand ist ein Partytreff. Der Bunker besteht aus
mehreren Räumen, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg genutzt haben. Gewöhnlich
gehe ich durch die Kanalisation rein. Es ist schwierig, die Kanaldeckel aufzukriegen,
aber meistens schaffen wir es zu zweit oder zu dritt.«
    Â»Kanalisation und Nazis? Da bin ich sofort dabei«, antworte
ich. »Hey, vielleicht können wir hinterher noch zur Müllkippe gehen.«
    Er lacht wieder. Ich auch. Es gefällt mir, ihn zum Lachen zu
bringen. Er fragt, was ich sonst noch gemacht hätte, also erzähle ich ihm von
meiner Abschlussarbeit. Er ist echt interessiert. Er kennt Malherbeaus Werk,
ihm gefällt die Idee von der musikalischen DNA und
er stellt mir eine Menge Fragen. Er schlägt auch noch ein paar weitere
Parallelen vor, an die ich nicht gedacht habe, wie etwa Stücke von Philip Glass
und PJ Harvey. Es ist schön, mit jemandem über
meine Arbeit zu reden, der nicht der Meinung ist, Musik sei etwas für Idioten.
    Er gibt mächtig Gas, während wir reden, und wir schlängeln
    uns in Richtung Westen aus dem 11. Arrondissement heraus, biegen auf den
Boulevard Voltaire ein, rasen um die Place de la République und dann den
Boulevard Magenta hinauf. Nach ein paar Blocks treffen wir auf eine Baustelle,
also wenden wir und kurven über Nebenstraßen nach Norden. Ich beobachte, wie
die nächtliche Stadt vorbeifliegt. Ich sehe die dunklen Fenster der Läden und
Restaurants, die verlassenen Eisenbalkone alter Häuser, in denen Eheleute und
Witwen, Babys und einsame Mädchen, alte Männer und Hunde und Katzen schlafen.
    Wir fahren weiter nach Norden, vorbei an den grellen
Neonlichtern der Sexshops und Peepshows an der Place Pigalle, in Richtung
Montmartre. Ich glaube, ich weiß jetzt, wohin wir fahren, und kann es gar nicht
erwarten anzukommen.
    Ich beobachte die Nachtschwärmer von Paris – eine
Prostituierte in schwarzer Strumpfhose und kurzem Rock, die fröstelnd an einer
Ecke steht; einen Mann im Anzug, der ziemlich fertig und benommen wirkt; Straßenreiniger,
Müllmänner, Bauern, die für den Markt am Samstagmorgen ihre Stände aufstellen,
Antiquitätenhändler, die zum Flohmarkt eilen.
    Ich liebe diese dunkle Stadt. Ich liebe das junge Arbeitermädchen
mit den roten Lippen und billigen Stöckelschuhen.

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