Das Blut der Lilie
bitte die Wahrheit, mein Herr?
Dass ich mir nur eine einzige Sache zunutze mache â
deine Eigenliebe.
14. Mai 1795
Ich kehrte zurück in die Bleibe meiner Familie, um
allen mitzuteilen, dass ich fortginge, dass ich Anstellung beim Herzog von
Orléans gefunden hätte. Theaterarbeit, sagte ich. Was nicht gänzlich gelogen
war.
Meine GroÃmutter war dagegen. Sie wusste, was von dem
Herzog zu halten war. Er wird sie ruinieren, sagte sie. Vielleicht hat er es ja
schon.
Sie ruinieren?, schnaubte mein Onkel. Was kann er ihr
schon nehmen? Die Möglichkeit zu heiraten? Welcher Mann will sie denn schon?
Sie ist keine Schönheit, und wir haben kein Geld. Sie ist besser dran mit ihm,
und wir auch.
Ich sah sie an. Meine mageren Brüder. Meine erschöpfte
Mutter. Ich liebte sie auf meine Weise, wirklich. Aber ich war hungrig. Und sie
auch.
Der Herzog von Orléans hatte mir eine Kammer gegeben,
hoch oben über seinen Gemächern. Auch Geld für meinen Unterhalt. Das meiste
davon drückte ich meiner Mutter in die Hand, küsste sie zum Abschied und ging.
Ein paar Monate später erfuhr ich, dass meine GroÃmutter gestorben war. Ich
hörte, mein Vater habe ein Stück auf die Bühne gebracht, das den neuen Tyrannen
Robespierre verspottete. Es erging der Befehl, ihn zu verhaften, und alle
flohen nach England.
Das habe ich allerdings nur gehört. Ich weià es nicht
sicher. Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen.
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Ich blicke gerade aus meinem Fenster auf die Lichter des
Gebäudes gegenüber, als mein Telefon klingelt. Regen trommelt gegen die
Scheiben und reflektiert das Licht in Millionen winzigen Tropfen. Ich wünschte,
ich könnte die Fehler fortwaschen. Die schlechten Taten. Die Schuld und das
Leid. Von mir. Von Alex. Von der ganzen Welt.
»Sing mir was vor«, sage ich ins Telefon. »Sing den Song über
Sacré-CÅur. Der ist so schön.«
»Ich kann nicht. Es ist wahnsinnig viel los heute Abend,
Andi. Dieses Wochenende sind drei Messen in der Stadt. Um vier hab ich mit
meiner Schicht angefangen und bin seitdem nie leer gefahren. Gerade im Moment
hab ich vier Leute in diese Rostlaube gestopft. Und der Verkehr ist furchtbar.
Aber hör zu, ich machâs wieder gut. Leg deine Klamotten zurecht.«
»Was?«
»Leg ein paar Sachen auf den Boden deines Zimmers, damit du
nicht im Dunkeln danach suchen musst. Dann stellst du dein Handy auf Vibration,
damit ich nicht das ganze Haus aufwecke, wenn ich anrufe, und legst es auf dein
Kopfkissen.«
»Und warum sollte ich das tun?«
Erneut flucht Virgil leise. Aber er meint nicht mich damit.
Wohl eher seinen Disponenten, den man im Hintergrund über den Taxifunk brüllen
und schimpfen hört.
»Machâs einfach«, sagt er zu mir.
»Ziemlich seltsam.«
»Ja, ich weiÃ. Genauso wie Schlaflieder am Telefon zu singen.
Alles ist seltsam, seitdem ich dich kennengelernt habe, Andi. Schlaf jetzt. Bis
bald.«
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Mein Handy brummt plötzlich wie ein schreckliches
Riesensinsekt an meiner Wange.
»Ja?«, melde ich mich heiser.
»Hey, Andi, ich binâs. Bist du fertig? Komm runter.«
»Virgil?«, frage ich und schiele auf die Uhr auf dem
Nachttisch. »Es ist halb fünf.«
»Ja, ich weiÃ. Wir müssen los. Leg auf und komm unter.«
Bevor ich noch etwas einwenden kann, hat er schon aufgelegt.
Ich starre ein paar Sekunden auf das Handy, warte, dass mein Gehirn auf online
schaltet, dann stehe ich auf und taste nach meinen Kleidern. Ich schleiche ins
Bad, weil ich meinen Vater nicht wecken möchte. Welche Unterhaltung wir
andernfalls führen würden, kann ich mir lebhaft vorstellen. â Hi, Dad! â Halb
fünf? â Wirklich? â Was hast du vor? â Was ich mache? Ich gehe aus. â Mit wem?
â Ach, kennst du ich nicht. Hab ihn selbst erst gerade kennengelernt. Wohin wir
gehen? Gute Frage! Keine Ahnung.
Ich lasse die Badezimmertür angelehnt, nachdem ich fertig bin
und husche auf Zehenspitzen durch Flur und Wohnzimmer. Dann schlüpfe ich zur
Tür hinaus, eile leise die zwei Stockwerke hinunter und bahne mir mühsam meinen
Weg durch all das alte Gerümpel im Hof. Es ist kalt und dunkel, und ich kann
kaum etwas sehen. Als ich durch die Haustür trete, kommt mir das Ganze ziemlich
abwegig vor, und ich frage mich, ob er überhaupt noch da ist.
Er ist da. Sitzt in seiner
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