Das Blut der Medusa
Stein geworden, de Greco?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Haben Sie schon vom Blut der Medusa gehört?«
»Das schon.«
»Ich habe es getrunken, mein Freund. Ich nahm das Blut der Medusa zu mir und bin deshalb etwas Besonderes geworden.«
»Und das Blut existiert?«
»Ja, auf der Insel hier. Auf der Insel der Toten. Es ist ein uraltes Erbe der echten Medusa. Sie hat ihr Blut für die Nachwelt hinterlassen. Kann man sich etwas Wunderbareres vorstellen?«
»Es kommt auf den Standpunkt an.«
»Mir tut sie nichts. Wer von ihrem Blut trinkt, der ist gegen sie gefeit.«
»Wären wir das auch?«
»Natürlich. Nur wird man euch das Blut nicht trinken lassen. Viele haben es versucht. Ihr könnt sie jetzt im Garten besichtigen. Auch ihr werdet dort bald stehen.«
»Du bist sehr offen, de Greco.«
Der Maler breitete die Arme aus. »Ich bin zu jedem offen. Nur haben mir die meisten nicht geglaubt.« Seine Stimme wurde zischend. »Sie hielten mich für einen Narren und vergaßen dabei, daß Narren meistens die Wahrheit sagen.«
Da konnte ich nicht widersprechen. »Da du so offen bist, de Greco, gibst du uns keine Chancen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ihr werdet keine Chance haben, das verspreche ich euch. Wir sind hier unter uns, ganz unter uns, versteht ihr?«
»Das sehe ich. Nur gibt es auf dieser Insel nicht nur dieses kleine Gebiet hier. Dörfer, Ortschaften…«
»Ja, sie sind vorhanden, aber schaut euch die hohen Felsen an.« Er deutete dorthin, wo die mächtigen Klötze wie Mauern standen und kaum Schatten gaben. »Sie bilden eine natürliche Grenze. Wer hat denn schon Lust, sie zu überklettern. Und wenn, dann wird er hier ein kleines Paradies vorfinden.«
»Und zu Stein erstarren!« schrie Clarissa.
»Vielleicht auch das.«
»Nicht jeder erstarrt zu Stein?«
»Nein, nur wenn sie will.«
»Wer ist sie? Medusa?«
»Ihre Erbin!« antwortete er flüsternd. »Sie hat das Blut der Medusa getrunken. Ich habe ihr Bild gemalt. Es ist herrlich, ich fühle mich wie neugeboren. Ich hätte schon längst tot sein müssen, aber ich lebe noch immer. Sie haben mich gebraucht, sie brauchen mich auch weiter. Ich bin der gute Geist der Medusen.«
»Und wo finde ich die Anführerin?«
»Du willst aber auch alles wissen, junger Mann. Eure Zeit ist nicht gut, sie ist zu schnell, das letzte Jahrhundert war besser.«
»Wer hat das Erbe übernommen?«
De Greco starrte mich an. Er hatte die Augen eines Toten. Ohne Leben, völlig glanzlos. »Ich will euch den Namen sagen. Kennt ihr Flora?«
»Nein!«
»Aber ich«, mischte sich Clarissa ein. »Ich kenne sie. Ist sie nicht die Göttin der Blumen?«
Der alte Maler nickte. Sein Gesicht erhellte sich. »Ja, sie ist die Göttin der Blumen. Schaut euch um. Seht euch diesen prächtigen Garten an. Ist er nicht wunderbar? Ein Paradies, wie ich meine. Aber ein Paradies nicht für jeden.« Er hob seine mageren Schultern. »Wir haben euch nicht gerufen, nicht eingeladen. Ihr seid einfach gekommen, und das ist sehr, sehr schlecht.«
»Können wir sie sehen?«
»Flora?«
»Auch.«
Da lachte er wieder. »Sie wird sich euch nicht zeigen. Sie ist etwas Besonderes, versteht ihr? Sie wird erst kommen, wenn sie es für richtig hält.«
»Wie verhält es sich mit den anderen Medusen?«
De Greco lächelte und machte es spannend. »Sie wissen Bescheid, denn sie haben euch gesehen. Bestimmt warten sie schon. Alles ist so gut gelaufen. Mein Bild hängt in Wien. Es ist phantastisch, ein Kunstwerk! Die Leute schauen es an und wissen nicht, daß es lebt.«
»Kann es auch vernichtet werden?«
»Ja, aber nicht, solange Flora noch lebt. In ihr, in mir und in dem Bild steckt das Blut der Medusa. Wir hüten es wie einen kostbaren Schatz, da es nicht vermehrbar ist. Noch haben wir genug, wir werden Akzente setzen.« Er wechselte das Thema. »Ich weiß nicht, wann ihr zu Stein erstarren werdet, zuvor jedoch gestatte ich euch einen kleinen Blick ins Paradies.«
»Wie großzügig«, erwiderte ich sarkastisch. »Haben die jungen Männer auch das Paradies sehen dürfen?«
»Nicht alle«, erwiderte er, »nur einige, die besonders auserwählt wurden.«
»Mein Bruder auch?«
Der Maler machte Schlitzaugen. »Du suchst deinen Bruder, Kind?«
»Ich habe ihn bereits gefunden«, erklärte Clarissa erstickt und dabei schluckend. »Ja, ich habe ihn gesehen, und er ist zu einer verdammten Steinfigur geworden. Das werde ich ihr heimzahlen, darauf kannst du dich verlassen.«
De Greco hob die Arme.
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