Das Blut der Rhu'u (German Edition)
Sonnenstrahlen auf Wasseroberfläche durchaus als Glühen bezeichnen.«
Camiyu runzelte die Stirn. Er blätterte in der Chronik und stieß schließlich einen aufgeregten Ruf aus. »Hier! Die Gemeinschaft hat zu der Zeit, als sie den Kristall gefunden hat, ein paar Monate im Kloster St. George the Pure als Saisonarbeiter gelebt.« Er blickte Carana in die Augen. »Patrick hat mir erzählt, dass das ein Grund war, warum die Gemeinschaft das Anwesen vor zig Jahren gekauft und sich dort niedergelassen hat.« Seine Augen funkelten aufgeregt. Er tippte auf den Folianten. »Patrick kennt die Chronik natürlich. Außerdem gibt es gewisse Geheimnisse, die nur von einem Gemeinschaftsoberhaupt an seinen Stellvertreter und seinen Nachfolger weitergegeben werden.«
»Du meinst, dass der letzte Splitter irgendwo auf dem Hof versteckt ist? Dort versteckt wurde, als es noch ein Kloster war?«
Er nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Aber das Kloster hat keine Höhle. Und auch keinen Keller oder etwas Ähnliches, das zu dem Rest des Rätsels passen würde. Das weiß ich genau.«
»Was ist mit den Geheimgängen?«
Er winkte ab. »Die habe ich alle durchsucht, für den Fall, dass die Gemeinschaft dort etwas Interessantes versteckt hat. Außer ein paar Leichen im Keller – wörtlich, ich habe alte Skelette entdeckt – ist dort nichts.«
Carana überdachte das. »Aber wenn wir uns mehr auf das Wasser konzentrieren statt auf eine Höhle? Hat das Kloster einen Brunnen?«
»Sogar drei.« Camiyus Augen leuchteten auf. »Und einer davon liegt mitten in einem Beet, auf dem schon seit ewigen Zeiten Frauenmantel wächst.« Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Natürlich! Jarod Kane hat mich bei seinem Besuch neulich sogar noch nach dem Namen der Pflanzen gefragt. Und ja, im Sommer strahlt die Sonne direkt um zwölf Uhr auf die Wasseroberfläche dieses Brunnens. Er ist als einziger der drei nicht überdacht.« Er schüttelte den Kopf. »Das wäre beinahe zu einfach. Aber wenn der Splitter dort versteckt wäre, müsste ich ihn gespürt haben. Andererseits«, er zuckte mit den Schultern, »habe ich auch die Ausstrahlung des Splitters, den ich damals in Indien gefunden habe, nicht immer gespürt, obwohl ich ihn ständig bei mir hatte.« Er seufzte. »Wir werden in jedem Fall nachsehen, ob das letzte Fragment in dem Brunnen versteckt ist. Am besten gleich heute Nacht.« Und laut rief er: »Onkel Cal!«
Cal erschien per Teleportation, und sie berichteten ihm von ihrer Vermutung. »Könnte hinkommen«, stimmte er zu. »Wir werden den Brunnen untersuchen. Wenn der Kristall dort ist, finden wir ihn.«
»Ich komme mit«, entschied Carana und lächelte. »Das ist irgendwie spannend wie eine Schatzsuche.«
Cal lachte. »In der Tat, denn es geht um einen Schatz, wie es keinen größeren in dieser Welt geben dürfte.«
*
Patrick ließ seinen Blick über die versammelte Gemeinschaft wandern. Die Stimmung war niedergeschlagen. Kein Wunder, denn das Bewusstsein, dass sie nicht nur komplett in ihrer Aufgabe versagt hatten, sondern dass sich sogar ein Dämon jahrelang unter ihnen verborgen hatte, ohne dass auch nur ein Einziger von ihnen das mitbekommen hatte – nicht einmal Megan mit ihrer seherischen Gabe –, war unerträglich. Das Zweitschlimmste an all dem war, dass der Dämon die Chronik gestohlen hatte. Was zu dem schlimmsten Aspekt führte, falls Camerons Behauptung zutraf, dass er und seinesgleichen alle Teile des Rhu’u-Kristalls bis auf einen bereits in ihrer Gewalt hatten. Cameron war ein kluger Kopf. Möglicherweise gelang es ihm, die Hinweise in der Chronik zu entschlüsseln, die zu dem letzten Teil des Dämonenkristalls führten.
Patrick, als Oberhaupt der Gemeinschaft, wusste natürlich, wo der sich befand. Zumindest wo er laut der Überlieferung von Oberhaupt zu Oberhaupt sein musste. Es gab aber keine Garantie dafür, dass er immer noch dort war und nicht irgendwann in den Jahrhunderten, in denen die Gemeinschaft ihn nicht hatte bewachen können, entdeckt und fortgebracht worden war. Leider konnte er nicht nachsehen, denn das hätte aufgrund der Lage des Versteckes zu viel Aufsehen erregt und höchstwahrscheinlich Unruhe in die Gemeinschaft gebracht.
Doch das war momentan zweitrangig. Die Gemeinschaft musste unter allen Umständen verhindern, dass die Dämonen ihn aufspürten, selbst wenn er nicht mehr an seinem Platz sein sollte. Dafür gab es nur eine Möglichkeit: Sie mussten die Dämonen vorher
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