Das Blut der Unschuldigen: Thriller
seinem Herzen nicht den geringsten Zweifel gab.
Das Haus, das sie jetzt betraten, hatte drei Stockwerke, und seine funktionale Bauweise zeigte, dass dort einfache Menschen lebten.
Pater Mikel Ezquerra, der fünfundsechzigjährige Gemeindepfarrer in jenem Viertel, der demnächst seinen Ruhestand antreten würde, wartete an der Tür auf den neuen Mitbewohner. Innerlich war Ezquerra überzeugt, dass es dieser »Römer« fern vom Getriebe und Wohlleben des Vatikans nicht lange bei ihnen aushalten werde.
Ihm selbst war es anfangs nicht immer leichtgefallen, sich die Wohnung mit Pater Ignacio zu teilen. Er hatte diesem
Mann, der wichtige Ämter in der Kurie innegehabt hatte und von dem es hieß, er verkörpere geradezu die Ohren des Vatikans, voll Argwohn gegenübergestanden.
Da aber Pater Ignacio darauf bestanden hatte, in einem gewöhnlichen Stadthaus gemeinsam mit anderen Jesuiten zu wohnen, war ihnen keine Wahl geblieben, und sie hatten ihn aufgenommen – er selbst zögernd, Pater Santiago hingegen begeistert. Allerdings war Pater Santiago schon immer ein wenig sonderbar gewesen. Tagsüber arbeitete er in einer Zementfabrik, und nach Feierabend komponierte er und las die Klassiker in der Ursprache. Für ihn besaßen das Altgriechische, das Aramäische, das Arabische ebenso wenige Geheimnisse wie das Lateinische. Er war von Natur aus fröhlich und gutherzig, und hatte sich, obwohl kein Baske, sondern Andalusier, in der Heimat des heiligen Ignatius von Loyola gut eingelebt.
Die Wohnung war bescheiden, bot aber genug Platz – sie hatte vier Schlafzimmer, ein Esszimmer, ein kleines Bad und eine Terrasse. Die Räume waren nicht groß und enthielten außer einem Wandschrank jeweils ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Aber alles war sauber und roch nach Lavendel.
»Itziar war hier und hat ein bisschen Ordnung geschaffen«, erklärte Pater Mikel. »Du weißt ja, wie hilfsbereit sie ist. Sie ist einfach gekommen und hat gesagt, sie wollte das hier schön herrichten, damit unser neuer Mitbewohner keinen Schreck bekommt und gleich an der Tür wieder umdreht.«
»Itziar springt in der Gemeinde ein, wo sie gebraucht wird«, fügte Pater Ignacio hinzu. »Sie ist äußerst gefällig und außerdem eine glänzende Köchin.«
Pater Santiago war noch nicht zurückgekehrt. Er komme, erklärte Pater Mikel, abends nie vor sieben nach Hause, weil er in der Fabrikkantine esse.
Als Sagardía seine beiden Koffer auspackte, kam ihm zu Bewusstsein, wie wenig Platz sein Zimmer bot. Er fragte sich, wo er all seine Bücher unterbringen sollte, die er sich aus Rom nachschicken lassen wollte. Die Anzüge, die feinen Hemden und die eleganten Schuhe, die er mitgebracht hatte, würde er in diesem Stadtviertel, wo die Männer in den umliegenden Fabriken arbeiteten und die meisten Frauen sich zu Hause um die Kinder kümmerten, nicht brauchen.
Bei Tisch unterhielten sich die drei Priester über alles und nichts. Pater Mikel fragte ihn nach dem Leben im Vatikan und teilte ihm mit, dass Pater Ignacio nur äußerst ungern etwas über seine vielen in Rom verbrachten Jahre berichtet hatte.
Während Sagardía die Fülle von Mikel Ezquerras Fragen überaus diplomatisch beantwortete, sah ihm Aguirre belustigt zu, bis Pater Mikel kurz vor drei Uhr aufstand und erklärte: »Leider muss ich jetzt gehen. Ich habe bis halb sechs Unterricht und lese anschließend in der Kirche eine Totenmesse. Wenn du nicht müde bist, kannst du gern kommen. Es ist nicht weit, und du lernst dann gleich ein paar von den Leuten kennen. Um sieben Uhr findet eine Besprechung mit Mitgliedern einer Gruppe statt, die Bedürftigen helfen will, und um acht lese ich die Messe.«
»Ich komme«, versicherte ihm Sagardía. »Ich möchte so bald wie möglich anfangen.«
»Dann könntest du ja morgen früh um sieben die Messe lesen, damit Ignacio nicht so früh aufstehen muss.«
»Ich stehe aber gern früh auf!«, protestierte Aguirre.
»Sicher, aber du solltest dich ein bisschen schonen. Vielleicht hört er eher auf dich«, sagte Pater Mikel zu Sagardía gewandt. »Der Arzt hat ihm gesagt, dass er kürzertreten soll, aber er denkt nicht daran. Ach ja, und außerdem vergeht kein Tag, an
dem er nicht in der Chronik von dem Ketzermönch liest – du wirst dich daran gewöhnen.«
»Du meinst Bruder Julián«, gab Sagardía lächelnd zurück.
»Ja, genau den. Jeder von uns hat das Buch gelesen, und es ist ja auch wirklich interessant, aber Ignacio ist davon förmlich
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