Das Blut der Unschuldigen: Thriller
längerer Zeit verlassen hatte, um in seine Heimat zurückzukehren und den Seinen zu predigen, ganz wie jetzt er.
Am Ausgang stand Pater Ignacio Aguirre, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit schneeweißem Haar, der deutlich jünger aussah als seine vierundachtzig Jahre. Mit seinen blauen Augen hielt er ungeduldig Ausschau nach seinem einstigen Schüler. Trotz des Rheumas, das ihm beständige Rückenschmerzen verursachte, hielt er sich gerade. Die beiden umarmten einander voll tiefer Bewegung. Bei ihrem Wiedersehen auf dem Boden der gemeinsamen Heimat nach so vielen Jahren gab es viel zu erzählen.
Aguirre hatte schon lange erwartet, dass sich Sagardía eines Tages für eine Rückkehr in die Heimat entscheiden würde, aber nicht geglaubt, dass das so früh geschehen würde. Sorgen machten dem alten Jesuiten, der viel über gequälte Seelen wusste, die Gründe, die Sagardía dazu veranlasst haben mochten.
»Ich nehme dich jetzt mit zu uns ins Haus. Weil wir wollen, dass du dich wohlfühlst, haben wir dir ein Zimmer hergerichtet. Hoffentlich gefällt es dir, auch wenn wir, wie du weißt, bescheiden leben. Mikel brennt schon darauf, dich kennenzulernen. Er ist ein guter Priester und einer von den wenigen Jesuiten, die nie den Wunsch verspürt haben, von hier fortzugehen. Seiner Überzeugung nach gibt es auch hier reichlich zu tun. Er hat sich um die Arbeiter auf der Werft gekümmert, bis die geschlossen wurde; jetzt gibt er Religionsunterricht in einer höheren Schule. Wie ich hat er Arthrose.«
»Ich bin sicher, dass es mir bei euch gut gehen wird. Im Übrigen möchte ich dir für die gastliche Aufnahme danken, aber auch dafür, dass du mich in meinem Wunsch unterstützt hast, herkommen zu dürfen. Das war bestimmt nicht einfach.«
»Der Heilige Vater schätzt dich und ist in allererster Linie ein Hirte, der das Beste für die ihm Anvertrauten will. Es hat keine Mühe gekostet, die Leute im Vatikan davon zu überzeugen, dass es besser wäre, dich gehen zu lassen, obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass ich deine Entscheidung für falsch halte. Jedenfalls hast du zugesagt, deinen Auftrag zu beenden, und das musst du tun.«
»Das werde ich auch. Er ist äußerst sonderbar und … Ehrlich gesagt, habe ich die Papiere erst im Flugzeug richtig gelesen. Weder an dem Tag, an dem man sie mir gegeben hat, noch während der Gespräche, die ich mit meinen Vorgesetzten darüber geführt habe, ist mir aufgegangen, wie sonderbar das alles ist. Ich hoffe nur, dass du mir helfen kannst …«
»Ich darf sie nicht sehen. Sie unterliegen dem Dienstgeheimnis, an das du dich halten musst.«
»Ich bitte dich – du hast die gleichen Aufgaben wie ich erledigt und gehörst dazu …«
»Das war früher… Andererseits gibt es Orte, von denen man sich nie ganz entfernt.«
Sie fuhren durch Bilbao und erreichten das Stadtviertel Begoña, wo dicht beieinanderstehende neue Hochhäuser durchaus einen erfreulichen Anblick boten. Offensichtlich waren die Arbeiterviertel nicht mehr so trübselig wie zu seiner Kinderzeit, und darüber freute sich Sagardía.
Er war in einem Haus zur Welt gekommen, dessen sämtliche Bewohner ebenso arm waren wie seine Eltern. In seiner Erinnerung an jene Zeit herrschte die Farbe Grau vor, die Fassade des Hauses, der bleifarbene Himmel über der Stadt, die Schürze seiner Mutter, die Röcke seiner Schwestern, der Stahl aus den Hochöfen – alles war grau gewesen.
Ihm fiel auf, wie klein ihm jetzt in Bilbao alles erschien,
selbst die Berge, die sich hinter den Häuserblocks abzeichneten. Klein und eigentlich auch reizlos, gestand er sich ein. Sogleich bereute er diesen Gedanken.
Er merkte, dass er die Demut wieder neu einüben musste, die er offenkundig in all den Jahren verlernt hatte, in denen er durch die ganze Welt gereist war, um über die Sicherheit des Heiligen Vaters zu wachen. Er hatte mit den Mächtigen dieser Erde zusammengesessen, mit Männern zu tun gehabt, die über die Politik, die Wirtschaft, kurz gesagt, über das Schicksal der Welt entschieden.
Er hatte in zu vielen Palasthotels gewohnt, in zu vielen Luxusrestaurants gegessen, und wohin auch immer sie kamen, überall hatte ein Wagen mit Fahrer auf sie gewartet.
Ja, er hatte der Kirche gedient, jetzt aber musste er denen dienen, die sich vom Glauben entfernt hatten oder im Begriff standen, ihn aufzugeben, weil ihr Leben so schwer und voller Härte war.
Er dankte Gott, dass er selbst den Glauben nicht verloren hatte und es in
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