Das Blut der Unschuldigen: Thriller
in Frankreich studiert. Dieser Lebenslauf mochte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass es dem General gelungen war, seine Nichte dort unterzubringen.
Nur widerstrebend hatten sich Hans Wein, der Leiter des Zentrums, und sein Stellvertreter Lorenzo Panetta bereit erklärt, die Dreißigjährige zu übernehmen. Sie brauchten keinen weiteren Analytiker und konnten erst recht nichts mit einer unerfahrenen Kraft anfangen. Doch aller Widerstand hatte ihnen nichts genützt, und so war Mireille Béziers aus dem Archiv in ihre Abteilung versetzt worden.
»Nun?«, erkundigte sich Panetta. »Haben Sie den Stein der Weisen gefunden?«
Alle lächelten einander verschwörerisch an, doch Mireille tat, als hätte sie den Spott nicht bemerkt. Konzentriert sah sie auf das Blatt mit den in Frankfurt gefundenen Wörtern: Karakoz, Grab, römisches Kreuz, Freitag, Saint-Pons …
»Mit Saint-Pons könnte Saint-Pons-de-Thomières gemeint sein«, schlug sie vor.
»Und warum das?«, wollte Lorenzo Panetta wissen.
»Weil sich die meisten Treffer bei der Eingabe des Namens in eine Suchmaschine auf diesen Ort beziehen. Zwar sagen manche Namen für sich allein genommen nichts, im Zusammenhang mit anderen aber… und da ich aus Montpellier komme …«
»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht recht, worauf Sie hinauswollen.« Bei diesen Worten Hans Weins verstummte das Gemurmel der anderen.
Er war ein guter Vorgesetzter, der es verstand, methodisch vorzugehen, doch war er von schroffem Wesen, sah keinen Grund, Mitarbeiter für gute Leistungen zu loben, und noch niemand hatte ihn je lachen sehen. In seiner Abteilung gab es Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Ausbildungsgängen aus fast allen Ländern der Europäischen Union: Juristen, Informatiker, Historiker, Theologen, Anthropologen, Mathematiker und so weiter. Wein lag daran, die besten Leute für seine Abteilung zu finden, und auch wenn er sicher war, von Vorurteilen frei zu sein, hatte er doch etwas gegen Eingebungen und Bauchgefühle. Er erwartete von seinen Mitarbeitern, dass sie logisch nachvollziehbare Gedanken vortrugen.
»Es mag abwegig klingen, aber meiner Ansicht nach«, fuhr die junge Frau unbeirrt fort, »spricht viel dafür, dass mit Saint-Pons dieser Ort gemeint ist. Bei dem Namen ›Lothar‹ ist die Sache schwieriger. Es gibt im Don Quijote einen Lothar, der um eine gewisse Camilla wirbt. Dann haben wir noch einen römischen Kaiser Lothar und einen König Lothar, die beide um die Mitte des 9. Jahrhunderts regierten und sich mit anderen um das Reich Karls des Großen gestritten haben …«
»Ich muss schon sagen – beeindruckend!«, spottete Matthew Lucas.
Ohne darauf einzugehen, fuhr sie fort: »Ein weiterer wichtiger Lothar war ein Sohn des Grafen von Segni, der als Papst Innozenz III. bekannt geworden ist. Außerdem gibt es noch eine Händel-Oper mit diesem Titel, die nach Ansicht der Musikwissenschaftler im Werk den Komponisten eine etwas eigentümliche Stellung einnimmt.«
Lastendes Schweigen trat ein. Hans Wein sah die junge Frau mit seinen stahlblauen Augen so lange an, bis sie tief errötete. Lorenzo Panetta hüstelte nervös, während die meisten Mitarbeiter der Abteilung so taten, als beschäftigten sie sich intensiv mit ihrem Computer. Nur Matthew Lucas stand auf und applaudierte laut.
»Bravo! Sehr fantasievoll. Aber ist Ihnen bewusst, dass es hier um die Untersuchung eines islamistischen Anschlags geht? Die Männer, die sich in Frankfurt umgebracht haben, hatten dabei den Ruf ›Allah ist groß!‹ auf den Lippen.«
»Ich weiß«, versuchte sie sich zu verteidigen. »Aber diese Namen…«
»Es ist eben doch nicht so einfach.«
Laura White, die Frau, die das gesagt hatte, war Hans Weins rechte Hand. Er traf keine Entscheidung ohne Rücksprache mit ihr und war froh, auf sie zählen zu können.
»Nur die Suchmaschine anzuwerfen und uns dann vorzutragen, was Sie da alles gefunden haben, als wäre das eine großartige Entdeckung, nützt uns überhaupt nichts«, gab Matthew Lucas der jungen Frau aufgebracht zu verstehen. »Was glauben Sie eigentlich, was wir getan haben, bevor Sie gekommen sind?«
»Na ja … ich hatte gedacht, für den Anfang«, versuchte sie sich zur Wehr zu setzen.
Hans Wein drehte sich um und ging in sein Büro. Er war sichtlich verärgert, ein untrüglicher Hinweis darauf, dass sich demnächst ein Gewitter über der Abteilung entladen würde.
Panetta und White folgten ihm. Panetta war fest überzeugt, dass es ein Fehler
Weitere Kostenlose Bücher