Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Gesichts waren schärfer herausgearbeitet als früher, und sie hatte deutlich abgenommen. Doch in ihren honigfarbenen Augen lag derselbe Glanz wie immer, und sie strahlte die ihm von klein auf vertraute Energie aus. Nach wie vor war sie eine Dame, der den Gehorsam zu versagen kaum jemand wagen dürfte.
Sie nahm die Hände ihres Sohnes und streichelte sie mit einer Zärtlichkeit, die sie ihm früher, wie er sich zu erinnern meinte, vorenthalten hatte. Aus Sorge, den Zauber des Augenblicks zu zerstören, brachte er kein Wort heraus.
»Der Seneschall ist im Begriff, Gascogner auszusenden, die Montségur erobern sollen«, sagte Julián. »Ihr solltet die Festung verlassen, bevor es zu spät ist. Wenn schon nicht um Euretwillen, dann wegen Eurer jüngsten Tochter. Sie trifft keine Schuld daran, dass Ihr einem Glauben anhängt, der geradewegs auf den Scheiterhaufen führt.«
»Mir ist bekannt, dass vor zwei Tagen eine Gruppe von Gascognern eingetroffen ist. Dein bewundernswerter Hugues des Arcis ist überzeugt, dass sie ihren Weg durch diese Felswände bis hinauf zur Festung finden können. Zwar hält der gute Péire Rotger de Mirepoix das für unmöglich, doch ich kenne den Seneschall: Er ist ein Starrkopf, der erst Ruhe gibt, wenn er Montségur zerstört hat.«
»Wenn Euch das alles bekannt ist, warum versteift Ihr Euch dann darauf zu sterben?«, rief Bruder Julián aus.
»Hör auf damit, und lass uns allein!«, gebot sie. »Ich möchte mit meinem Sohn sprechen und Abschied von ihm nehmen, denn es wird in diesem Leben das letzte Mal sein, dass wir einander sehen.«
Niedergeschlagen setzte sich Bruder Julián einige Schritte entfernt auf einen Felsblock.
Doña María sah ihrem Sohn in die schwarzen Augen und versuchte darin zu ergründen, was er empfand.
»Ich liebe dich, mein Junge. Ich sage das für den Fall, dass du je daran gezweifelt haben solltest. Mir ist klar, dass ich weder die Mutter war, die du dir erhofft hast, noch die, die ich dir gern gewesen wäre. Doch ich werde keine Entschuldigungsgründe dafür anführen, die auch mich nicht überzeugen würden. Ich bin ein unvollkommener Mensch; die irdische Hülle, die mich umgibt, hat versucht, meine Seele zu verderben, glücklicherweise aber werde ich mich ihrer bald entledigen.«
»Mutter…!«
»Schweig, und hör mir zu. Wir haben nur wenig Zeit, und ich habe dir viel zu sagen. Da ist zum einen dein Halbbruder Julián, ein schwacher und ängstlicher Mensch. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, dass er sich dem wahren Glauben zuwendet, damit aber lediglich erreicht, dass er in Qualen lebt.
Dennoch vertraue ich auf ihn. Er hat wie du das Blut derer de Aínsa in seinen Adern und wird daher nie zum Verräter an uns werden. Da er lesen und schreiben kann, habe ich ihn vor einigen Monaten gebeten, dafür zu sorgen, dass unsere Enkel wie auch deren Enkel und Urenkel nicht vergessen, was hier geschieht. Er soll eine Chronik verfassen und darin alle Schandtaten der Großen Hure verzeichnen, denn nichts anderes ist die Kirche des Papstes. Sie erträgt es nicht, dass es Christen wie uns gibt, die der Lehre Jesu entsprechend leben, den Bedürftigen helfen und ihren Besitz mit denen teilen, die nichts haben. Zahlreiche Diener der Großen Hure kleiden sich in damastene Gewänder und führen ein Leben in Saus und Braus, fern von den Nöten der Armen und Kranken. Sie dient dem Teufel, von dem sie ein Teil ist.«
»Mutter, Ihr lästert Gott!«
»Keineswegs, Fernando, und du, mein Sohn, weißt das sehr genau. Du kennst die Habgier jener Kirche, die wir die Große Hure nennen. Wie andere, die ebenfalls Augen haben zu sehen, hast du ihre Niedertracht erkannt. Ich erwarte nicht, dass du mir hier und jetzt zustimmst, doch ich kenne dein Wesen und weiß, dass du ein guter Mensch bist, bereit, für die Schwachen einzutreten, dich für die Bedürftigen zu opfern, im Dienste Gottes dein Leben zu geben, ohne Lohn dafür zu erwarten. Hör zu: Julián wird die Chronik verfassen und darin berichten, welch fanatische und mächtige Feindin Doña Blanca von Kastilien für uns war. Ohne sie besäße der französische König kein Reich, und ohne sie wäre Raimond nach wie vor Herr seiner Grafschaft Toulouse.«
»Sie hat sich gegenüber den Grafen von Toulouse und Foix als großzügig erwiesen. Ausschließlich dank ihrer Vermittlung hat der König beide weniger hart bestraft, als sie es verdient gehabt hätten«, wandte Fernando ein.
»Verschließ die Augen nicht vor der
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