Das Blut der Unschuldigen: Thriller
und kehrte sogleich mit einem großen Tablett zurück, um den Tisch abzuräumen. Mohammed tat so, als wäre sie nicht anwesend. Er war tief in Gedanken versunken, doch sie sah Verwirrung und Qual auf seinem Gesicht. Ihr dämmerte, dass seine Ankunft ein Unglück für die Familie nach sich ziehen würde, und sie erschauerte unwillkürlich.
9
Mit raschen Schritten eilte Laila durch die Gassen des Albaicín in Richtung Stadtmitte. Dort hatte sie sich mit zwei Freundinnen im Generalife verabredet. Viele junge Leute verkehrten dort, weil man in diesem Lokal sicher sein durfte, gute Bekannte und Freunde zu treffen, vor allem am Wochenende.
Als sie eintrat, winkte ihr Paula zu, um ihr zu zeigen, wo sie und Carmen saßen.
»Du hast dich verspätet«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ja. Mein Bruder Mohammed ist zurückgekommen. Er war
schon lange nicht mehr hier. Du weißt ja, dass er in Deutschland lebt.«
»Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Sieht er immer noch so gut aus?«, fragte Carmen.
»Ja, wie immer«, gab Laila gleichmütig zurück.
»Er hat wirklich gut ausgesehen und geflirtet wie ein Weltmeister.«
»Das ist vorbei. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.«
»Ach! Seit wann?«, wollte Paula wissen.
»Seit ein paar Tagen.«
»Und wieso hat er dann schon Kinder?«, erkundigte sich Carmen neugierig.
»Die stammen aus der ersten Ehe seiner Frau.«
»Das ist ja ein Ding!«, rief Carmen aus.
»Wieso?« Laila wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben, ohne gegenüber ihren beiden besten Freundinnen unfreundlich zu sein.
»Na ja, er ist zwei oder drei Jahre jünger als wir, auf jeden Fall noch keine dreißig, und da geht er her, heiratet und hat zwei Kinder. Ist er denn mit seinem Studium fertig?«
»Ja. Du weißt ja, dass er Touristik studiert hat und nach Deutschland gegangen ist, um sich in der Sprache zu vervollkommnen. Wir haben da Verwandte … Habt ihr schon gegessen?«
»Ein paar Kleinigkeiten«, sagte Paula. »Übrigens hat Alberto angerufen und gesagt, er würde mit Javier vorbeikommen. Sie können jeden Augenblick hier sein.«
Laila bestellte ein Bitter Lemon und nahm zerstreut eine Zigarette aus der Schachtel, die vor Paula auf dem Tisch lag.
»Hast du etwa wieder angefangen zu rauchen?«, fragte diese.
»Ach was … Ich bin heute nur ein bisschen nervös. Eigentlich habe ich gar nicht richtig damit aufgehört und steck mir ab und zu noch eine an.«
Carmen begann in Einzelheiten über das Gespräch mit einer neuen Mandantin zu berichten, die am Nachmittag in die Kanzlei gekommen war, weil sie sich scheiden lassen wollte. Zu Lailas Erleichterung wandte sich die Unterhaltung jetzt diesem Thema zu. Es war ihr recht, die Auseinandersetzung mit ihrem Bruder eine Weile vergessen zu können.
Als Alberto, der einen Computerladen betrieb, mit Javier eintrat, winkte Paula ihnen zu. Javier, ein Vetter Carmens, der mit den drei Freundinnen zusammen studiert hatte, war der Initiator der gemeinsamen Kanzlei. Sein Spezialgebiet war Handelsrecht, während sich die drei jungen Frauen auf das Familienrecht konzentrierten. Paula und Carmen hatten eine katholische Ordensschule besucht, Laila hingegen war in eine staatliche Schule gegangen. Dort hatte man sie anfangs etwas scheel angesehen, doch hatte sie als Klassenbeste schon bald bewiesen, dass sie Köpfchen hatte, vor allem aber hatte sie sich als gute Kameradin erwiesen, die stets bereit war, anderen zu helfen.
Es war nicht einfach gewesen zu erreichen, dass die anderen sie als ihresgleichen behandelten. Das ging vor allem darauf zurück, dass ihr Vater nicht bereit war, sie am Sportunterricht teilnehmen zu lassen, und sie sogar zwang, in der Schule das Hidschab zu tragen. Doch eines Tages hatte sie sich dagegen aufgelehnt. Sie hatte dem Vater nichts gesagt, um ihn nicht unnötig aufzubringen, doch sobald sie außer Sicht des Hauses war, hatte sie das Kopftuch abgenommen. Außerdem hatte sie die Mutter dazu gebracht, ihr einen Jogging-Anzug zu kaufen, wie ihn die anderen Mädchen trugen. Sie hatten einander in
die Hand versprochen, das Geheimnis zu bewahren, damit sich der Vater seiner Tochter nicht schämen musste.
Dabei war es Laila gar nicht recht, den Vater zu hintergehen, und sie stellte sich vor, wie schrecklich er reagieren würde, wenn er erführe, dass die Mutter ihr die Stange gehalten hatte. Zwar traute sie ihm nicht zu, dass er sie misshandeln würde, doch war ihr klar, dass ihn die Lüge in tiefster Seele schmerzen würde.
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