Das Blut der Unschuldigen: Thriller
werden darf, wollten sie das Kopftuch nicht tragen und wie andere junge Leute mit Gleichaltrigen ausgehen.
Sie lebten schon lange in einer Art Bewusstseinsspaltung, mussten sie sich doch im Elternhaus völlig anders verhalten als in der Schule oder im Betrieb, und sie suchten verzweifelt
nach einem Gleichgewicht zwischen diesen beiden Welten, deren ständiges Aufeinanderprallen sie fortwährend am eigenen Leibe erlebten.
Seit etwa einem Monat hatte es sich ein junger Moslem zur Aufgabe gemacht, vor der Kanzlei gleichsam Wache zu stehen. Er rief ihnen Schmähungen zu und teilte ihnen mit, sie gehörten ins Haus.
Auf Javiers und Albertos Aufforderung hin, das zu unterlassen, hatte er ihnen gedroht, es werde sie noch teuer zu stehen kommen, dass sie sich zu Befürwortern dieser Frauen aufschwangen.
»Wir werden wohl wirklich die Polizei rufen müssen«, sagte Javier. »Möglicherweise ist der Bursche nicht ganz richtig im Kopf.«
»Muss wohl so sein. Warum sonst sollte er Frauen belästigen, die in einem Büro zusammenkommen, um zu beten?«, ergänzte Alberto.
»Er ist ein religiöser Fanatiker. Ich kann nur nicht sagen, wie weit er gehen wird.«
Überrascht sahen sie zu Laila hin, die das ausgesprochen hatte, was alle dachten, aber nicht zu sagen wagten, um sie nicht zu kränken.
»Am besten dürfte eine Anzeige sein«, wiederholte Javier. »Dann sehen wir ja, wer er ist und was da läuft.«
»Ich weiß, wer er ist.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, wollte Carmen wissen.
»Ich kenne seinen Namen nicht, aber ich habe ihn auf dem Albaicín gesehen. Er gehört zu einer Gruppe von jungen Burschen, die … nun ja, es sind lauter religiöse Fanatiker.«
»Dann sollten wir vorsichtig sein«, sagte Paula besorgt.
»Wir müssen damit rechnen, dass sie uns eines Tages einen gehörigen Schreck einjagen.«
»Am besten suche ich mir einen anderen Ort für meinen Unterricht. Dann hört die Belästigung ganz von selbst auf.«
»Was für ein Unsinn!«, rief Javier aus.
»Das ist kein Unsinn. Ihr seid mir gegenüber sehr großzügig gewesen, aber ich möchte nicht, dass ihr meinetwegen Ungelegenheiten bekommt. Die Sache hat nicht das Geringste mit euch zu tun, also werde ich mir ein billiges Zimmer für meine Medresse suchen.«
»Kommt ja gar nicht in Frage«, sagte Paula. »Wir lassen dich nicht im Stich. Wenn das ein Fanatiker ist, soll ihn die Polizei festnehmen. Du tust nichts Böses, aber er will euch einschüchtern.«
»Ich denke, du solltest dich mit jemandem zusammensetzen und darüber reden, was da los ist, um festzustellen, ob der Typ gefährlich ist oder nur Wind macht«, erklärte Alberto.
»Mein Vater kennt einen Abgeordneten. Vielleicht kann er den fragen, was sich in solchen Fällen unternehmen lässt«, sagte Paula.
»Ich schlage vor, dass wir diesen Hornochsen jetzt erst mal vergessen und irgendwo einen Schluck trinken. Den haben wir uns redlich verdient. Schließlich haben wir die ganze Woche gearbeitet.«
Diesem Vorschlag Javiers folgend, ließen sie die Sache vorerst auf sich beruhen. Laila beschloss mitzugehen, um auf andere Gedanken zu kommen und eine Weile nicht an den Streit mit ihrem Bruder denken zu müssen.
10
Mit müder Gebärde öffnete Darwisch Amir die Tür seines Hauses.
Als Erstes suchte er die Küche auf, in der Gewissheit, dort seine Frau bei der Zubereitung des Frühstücks anzutreffen. Laila würde noch schlafen, denn samstags arbeitete sie nicht. Auch er hatte jetzt zwei freie Tage vor sich.
Wie erwartet, fand er seine Frau in der Küche. Sie machte gerade in Gedanken versunken Kaffee und merkte nicht einmal, dass er da war.
»Guten Morgen.«
Sie wandte sich nervös um, und er sah Angst in ihren Augen. »Was ist los?«, fragte er beunruhigt.
»Nichts weiter. Mohammed ist gekommen. Er und seine Frau und die Kinder schlafen noch, aber wenn du möchtest…«
»Mein Sohn? Wann denn?«
»Gestern Abend, und … Er wird es dir selbst erzählen. Er hat Hassans Schwester geheiratet, Jussufs Witwe …«
»Was sagst du da? Ich verstehe nicht, erklär mir das genauer.«
»Jussuf ist tot … Wie gesagt, der Junge wird es dir genau erklären. Jedenfalls hat er die Frau geheiratet, und wir haben jetzt zwei Enkel.«
Darwisch sah seine Frau aufmerksam an. Aus welchem Grund mochte sie nur so unruhig und bedrückt sein? Immerhin war ihr einziger Sohn nach Hause gekommen. Sie sprach von ihm wie von einem Fremden.
»Was hast du?«
»Nichts. Was soll ich schon
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