Das Blut der Unschuldigen: Thriller
ist.«
Mohammed gab sich damit zufrieden. Die Mutter hatte Recht. Sein Vater legte großen Wert darauf, kein Aufsehen zu erregen, und konnte sehr ärgerlich werden, wenn jemand einfach so an seiner Arbeitsstelle auftauchte.
Er holte das Gepäck aus dem Wagen und ermahnte die Kleinen noch einmal, brav zu sein.
»Mein Vater ist ein freundlicher Mensch«, sagte er, »aber wenn es nötig ist, schlägt er auch mit dem Gürtel. Er kann es nicht leiden, wenn man durchs Haus rennt oder herumschreit. Macht nichts schmutzig und redet nur, wenn ihr gefragt werdet.«
Die Kinder nickten furchtsam. Sie spürten die Besorgnis ihrer Mutter gegenüber der älteren Frau, und auch die Fremdartigkeit dieser Stadt bedrückte sie, die sich so sehr von ihrem Geburtsort Frankfurt unterschied.
Eine Stunde später, es war schon dunkel, wurde die Haustür geöffnet, und sie hörten rasche Schritte auf den Fliesen der Diele.
Laila trat ins Wohnzimmer und stieß beim Anblick ihres Bruders einen Freudenschrei aus. Während sie ihn umarmte, sagte sie: »Wie schön, dass du hier bist. Aber warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du kommst?«
Lächelnd hörte er ihr zu. Eine Welle der Zuneigung überflutete ihn. Er liebte seine Schwester, die nur drei Jahre älter war als er. In ihrer Kindheit war sie seine Vertraute gewesen und hatte seine Streiche verschwiegen, damit ihn der Vater nicht mit dem Gürtel züchtigte. Von klein auf war sie tapfer und aufsässig gewesen, stets bereit, Schwachen beizustehen. Dazu hatten auch all die Straßenköter und streunenden Katzen gehört, denen sie auf dem Albaicín begegnete und die zur Verzweiflung der Mutter und zum Verdruss des Vaters im Hinterhof des Hauses Asyl fanden.
Wie ihre Mutter war sie zierlich, hatte schwarzes Haar und eine leuchtend weiße Haut. Sie war keine Schönheit, doch aus ihren großen braunen Augen strahlte so viel Energie und Entschlossenheit, dass man sich ihr nur schwer widersetzen konnte.
Überrascht sah Mohammed, dass sie ganz wie die westlichen Frauen kein Kopftuch trug und in Rock und Pullover gekleidet war, doch sagte er nichts, um sich selbst die Freude seines Wiedersehens mit ihr nicht zu verderben. Außerdem waren sie zu Hause, wo niemand sie sehen konnte.
Während der Mahlzeit unterhielten sie sich über Alltagsdinge. Mohammed erkundigte sich nach seinen alten Freunden, wollte wissen, was sich seit seinem Fortgang in Granada geändert hatte und wie die politische Situation in Spanien war.
Beim Nachtisch fragte er seine Schwester nach ihrem Jurastudium.
»Das habe ich hinter mir. Ich bin Anwältin.«
»Das wundert mich nicht. Du hast dich ja immer schon für andere eingesetzt«, gab er zurück.
»Auch für dich«, erinnerte sie ihn.
»Stimmt. Du warst immer eine gute Schwester. Und hast du eine Stelle?«
»Ja, ich bin an der Universität Assistentin eines Professors für internationales Recht. Damit verdiene ich nicht viel, aber für mich genügt es. Außerdem arbeite ich in Teilzeit zusammen mit zwei Freundinnen in einer Kanzlei, die einige Fachkollegen nach der Pensionierung ihres Inhabers von ihm übernommen haben.«
»Du bist also eine richtige Rechtsanwältin!«, rief er voll Stolz auf die Schwester aus.
»Ja«, bestätigte sie lächelnd.
»Ich sehe, dass du kein Hidschab trägst.«
»Nein. Allerdings habe ich manchmal überlegt, ob ich es nicht doch tun soll. Es scheint die Angehörigen vieler Frauen zu beruhigen, wenn man sein Haar unter dem Kopftuch versteckt. Vielleicht sind die Leute dann nicht so misstrauisch, und ich kann die Frauen weiter unterrichten.«
»Frauen unterrichten? In was?«
Die Mutter schien beunruhigt zu sein, und er glaubte im Blick der Schwester herausfordernden Trotz aufblitzen zu sehen.
»Im Koran. Wir beten miteinander und sprechen über die wahre Bedeutung des Korans. Ich habe eine kleine Medresse für Frauen eingerichtet. Eigentlich ist sie für alle gedacht, aber bisher sind nur ein paar Frauen gekommen. Ihr Männer seid noch ziemlich voreingenommen und seht es nicht gern, dass eine Frau vorbetet und den heiligen Koran unterrichtet.«
Zornrot sprang Mohammed auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Wasserkaraffe umfiel.
»Das kannst du nicht tun! Das ist Lästerung!«
Unbewegt und unbeeindruckt sah ihn Laila an.
»Ach ja? Und wer sagt das? Wo steht geschrieben, dass ich nicht unterrichten und vorbeten darf? Zeig mir die Stelle im Koran, die das verbietet.«
Er sah sie erschüttert an. Er hatte das
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