Das Blut der Unschuldigen: Thriller
sauberhalten, beim Verkaufen aushelfen, Post beantworten …«
Erstaunt sah er die junge Frau an, die den Mut hatte, für ein jüdisches Ehepaar zu arbeiten. Sicher war es unter den in Deutschland herrschenden Umständen ungewöhnlich, sich offen zum Umgang mit Juden zu bekennen.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, erklärte sie: »Ich brauchte eine Arbeit, zu der ich meinen Günter mitnehmen konnte. Meine Angehörigen wollen nichts mehr von mir wissen, weil er unehelich ist – seinen Vater hat man schon vor der Geburt verschleppt. Eine Kundin der beiden Levis, die in meiner Nachbarschaft wohnt, hat mir gesagt, dass sie Hilfe brauchten. Ich durfte den Kleinen zur Arbeit mitbringen. Es waren gute Menschen.«
»Waren?«, fragte Arnaud beunruhigt.
»Na ja, ich weiß nicht, sind, waren … Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.«
»Bitte sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Ich war nicht hier, als es passiert ist. An einem Samstagabend hat ein Rollkommando der SA die Schaufensterscheiben mit Steinen eingeworfen, im Laden alles kurz und klein geschlagen und dann oben weitergemacht. Wie mir Frau Levi später gesagt hat, hatten sie und ihr Mann Angst, dass sie es nicht überleben würden. Die Schläger haben mit Knüppeln auf die beiden eingeprügelt und sie mit ihren schweren Stiefeln getreten, bis sie blutüberströmt am Boden lagen.«
»Und niemand hat eingegriffen? Kein Nachbar ist gekommen, um den armen Menschen zu helfen?«
»Weil im Ausland niemand weiß, was hier passiert, und auch die Deutschen so tun, als ob nichts wäre, kann Hitler mit seinem Pack nach Gutdünken schalten und walten.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Warum hat niemand eingegriffen?«
»Wer einem Juden hilft, macht sich selbst verdächtig und bringt sich damit in eine äußerst schwierige Lage. Also sieht und hört jeder weg, wenn es um Juden geht.«
»Und auf welche Weise haben Sie von der Sache erfahren?«
»Ich wohne zwei Straßen weiter und bin am Sonntagmorgen zufällig der Blockwartsfrau hier aus dem Haus begegnet. Sie hat mir lachend erzählt, meine Arbeitgeber hätten ›Besuch gehabt‹ und ich sei jetzt arbeitslos, weil es keine Bücher mehr zu verkaufen gebe. Ich bin sofort mit Günter auf dem Arm hier in die Wohnung gelaufen und habe die beiden Levis am Boden liegen sehen. Sie hatten keine Hilfe herbeirufen können, weil die Schläger die Telefonschnur aus der Wand gerissen hatten. Sie haben mich gebeten, ein befreundetes jüdisches Ehepaar zu informieren. Der Mann ist Arzt, praktiziert aber nicht mehr. Die Freunde sind unverzüglich mit ein paar anderen Bekannten gekommen. Zusammen haben wir hier ein bisschen Ordnung geschaffen, aber unten im Laden haben wir lieber alles gelassen, wie es war, um die SA-Leute nicht wieder anzulocken. Ich glaube, Frau Levi hat sich mit ihren Angehörigen in Frankreich in Verbindung gesetzt. Die beiden hatten schon seit einer Weile davon gesprochen, dass sie von hier wegwollten.«
Sie schwieg und setzte den Kleinen ab. »Sei brav und rühr dich nicht vom Fleck«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Backe. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen, hier noch ein bisschen aufzuräumen.«
»Wenn Ihnen das nichts ausmacht …«
Ihm war nicht so recht klar, welchen Sinn es haben sollte, diesem Ort der Zerstörung wieder den Anschein einer Wohnung zu geben, doch zumindest würde es ihm helfen, innerlich zur Ruhe zu kommen. Während er der jungen Frau zur Hand ging, die mit verblüffender Geschwindigkeit Möbel wieder hinstellte, Kissen aufschüttelte und die Küche auskehrte, führte er das Gespräch weiter.
»Und danach?«
»Ein paar Tage lang sah alles wieder ganz normal aus, soweit man unsere Situation hier als normal bezeichnen kann. Ich war jeden Tag hier, um nach den beiden zu sehen. Im Laden gab es ja nichts mehr zu tun, aber hier konnte ich ihnen behilflich sein. Sie konnten sich nach der schweren Misshandlung kaum noch bewegen.
An einem Freitag Mitte März habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Sie wollten unbedingt, dass ich mir den Samstag freinahm, und haben gesagt, sie kämen schon zurecht. Wie sie sagten, erwarteten sie Besuch von Freunden. Als ich am Sonntag nach ihnen sehen wollte, habe ich die Wohnung so vorgefunden, wie sie heute ist. Niemand war hier. Ich habe die Blockwartsfrau gefragt, aber die hat gesagt, dass sie auch nichts weiß. Dann habe ich die Leute aus den oberen Stockwerken gefragt, und alle haben dasselbe gesagt: Keiner
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