Das Blut der Unschuldigen: Thriller
große Lust ich dazu auch hätte.«
»Was wollen Sie?«, fragte der Graf mit gleichmütiger Stimme.
»Sie kennen in Deutschland wichtige Persönlichkeiten. Sicherlich könnten die mir helfen.«
Wieder schwieg d’Amis.
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Wo kann ich Sie erreichen?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich werde als Erstes zum Haus der Verwandten meiner Frau gehen und mir dann wohl ein Hotel suchen.«
»Gut. Schreiben Sie mir die Namen der verschwundenen Personen auf, und rufen Sie mich an, sobald Sie in Berlin sind. Ich werde Ihnen dann sagen, mit wem Sie sich in Verbindung setzen können, und hoffe, dass man eine Möglichkeit hat, Ihnen weiterzuhelfen. Sie fahren zu keinem besonders günstigen Zeitpunkt – ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Franzose gegenwärtig dort willkommen ist.«
Rasch notierte Arnaud die Namen seiner Frau und ihrer Verwandten sowie deren Anschrift auf einem Blatt Papier. Als er es dem Grafen gab, erkannte er in dessen Blick Verachtung. Ohne Händedruck verabschiedeten sie sich wortlos. Arnaud blieb stehen und sah ihm nach. Vielleicht war der Graf, dem gegenüber er eine sonderbare Abneigung empfand, seine einzige und letzte Hoffnung.
6
In Berlin war es nicht kalt, wohl aber regnete es, und die Nässe drang durch die Kleidung. Der Fahrer des Taxis, das ihn zum Haus von Miriams Verwandten brachte, ein begeisterter Anhänger Hitlers, nannte diesen »den Mann, den die Vorsehung unserem Land geschickt hat«. Zwar merkte Arnaud befriedigt, dass er sein Deutsch nicht vergessen hatte, ging aber nicht darauf ein, um nicht mit dem Mann streiten zu müssen. Genau genommen wollte er mit niemandem über irgendetwas reden. Er kannte keinen anderen Wunsch, als seine Frau zu finden.
Als das Taxi vor der Buchhandlung anhielt, musterte ihn der Fahrer argwöhnisch.
»Hier scheinen Juden zu wohnen …«, sagte er mit fachmännischem Blick.
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Arnaud verärgert.
»Sehen Sie sich doch den Laden an … Bestimmt waren unsere tapferen jungen Leute da schon mal zu Besuch. Sie sind die Vorhut unserer Revolution. Garantiert haben die den Juden in dem Laden da gezeigt, was die Stunde geschlagen hat.«
Während Arnaud dem Mann das Geld gab, unterdrückte er mit Mühe das Bedürfnis, ihm einen Faustschlag zu versetzen. Noch nie im Leben hatte er jemanden geschlagen, doch der Taxifahrer rief die niedrigsten Instinkte in ihm wach. Stumm wartete er, bis der Wagen verschwunden war, dann ging er auf das Haus zu.
In der Buchhandlung war nicht ein einziges Buch zu sehen. Das vollständig verwüstete Innere wirkte wie ein lebloses Skelett. Die Reste der zerstörten Regale lagen vermengt mit
Papierfetzen und den Scherben der zerschlagenen Schaufensterscheiben am Boden.
Er ging nach hinten. Durch den Rahmen einer Tür, die man offensichtlich eingetreten hatte, gelangte er in einen Raum, in dem sowohl der runde Tisch wie die vier Stühle um ihn herum in Stücke geschlagen waren. Bedrückt stieg er die Wendeltreppe zur Wohnung der beiden alten Leute empor, die aus Küche, Bad, Wohnzimmer und zwei Schlafräumen bestand. Sie bot das gleiche Bild wie die Räume im Erdgeschoss: Die Betten war umgestürzt worden, alle Kissen ausgeleert, das Sofa aufgeschlitzt, und in der Küche lagen die Scherben von zerbrochenem Porzellan.
Dann fiel ihm inmitten von Bildern, deren Rahmen und Glas man am Boden zertrampelt hatte, ein Foto ins Auge. Er bückte sich und hob es auf. Die fünf Jahre zuvor bei einem Besuch in Berlin gemachte Aufnahme zeigte ihn zusammen mit David, Miriam, Onkel und Tante. Er sah eine ganze Weile darauf. Für den damals zwölfjährigen David war diese Reise etwas ganz Besonderes gewesen.
»Die haben alles kaputt gemacht.«
Verblüfft fuhr er herum und sah eine junge Frau mit blauen Augen und rötlichem Haar, die einen Säugling im Arm hielt. Sie mochte Mitte zwanzig sein und wirkte unauffällig, jemand, dem es leichtfiel, in einer Menschenmenge unterzutauchen.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
»Und Sie?«
»Ich bin … ein Neffe von … genau genommen ist meine Frau die Nichte der Frau Isaak Levis.«
»Ich heiße Inge Schmid. Ich arbeite bei den beiden und will jetzt ein bisschen Ordnung schaffen.«
»Gehen Sie ihnen schon länger zur Hand?«
»Ja, seit einem knappen Jahr. Sicher wissen Sie, dass sie Hilfe brauchten. Die Frau leidet an Schwindelanfällen, und er hat Gicht. Ich bin immer eingesprungen, wo es nötig war: Regale umräumen und
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