Das Blut der Unschuldigen: Thriller
wenig Zeit.«
»Lassen Sie doch. Andererseits … na ja, vielleicht ist es ganz gut, wenn es hier ein bisschen besser aussieht.«
Mit einem Mal bückte er sich. Er hatte auf der Kehrschaufel zwischen den Glassplittern etwas entdeckt.
»Was ist?«, fragte Inge Schmid.
»Das … gehört meiner Frau«, sagte er mit zitternder Stimme.
Sie sah auf den Gegenstand, den er aufgenommen hatte. Es war eine flachgetretene Lippenstifthülse.
Er betrachtete das Metall mit so liebevollem Blick, als handelte es sich um Miriam selbst. Schweigend verließ er das Badezimmer und setzte sich. Die junge Frau folgte ihm.
»Sind Sie sicher, dass das Ihrer Frau gehört? Auch Frau Levi hat Lippenstift benutzt.«
»Ich kenne den meiner Frau sehr genau. Sie hat immer die gleiche Marke und die gleiche Farbe benutzt, seit wir einander im Studium kennengelernt haben.«
Er steckte den Lippenstift ein, als handelte es sich um ein wertvolles Kleinod.
»Dann muss sie hier gewesen sein. Wir wollen nachsehen, ob wir noch mehr finden können.«
Eine ganze Weile lang durchkämmten sie die Wohnung. Als sie den Abfallbehälter durchsuchten, schnitten sie sich an den Glassplittern. Günter sah ihnen zu und verlangte in gewissen Abständen weinend nach der Aufmerksamkeit seiner Mutter. Arnaud fühlte sich versucht, sie mit der Aufforderung fortzuschicken, sie möge sich um ihren Jungen kümmern, doch dann wieder fürchtete er, allein zu bleiben. Sie war das einzige Bindeglied zu den Levis und zu Miriam, und so sagte er nichts.
Drei Stunden später sahen die Räume wieder einigermaßen bewohnbar aus, abgesehen von dem Sofa, aus dessen zerfetzten Polstern die Füllung quoll, und dem Esszimmertisch, dem zwei Beine fehlten. Durch die scheibenlosen Fenster kam die Kälte herein.
»Wenn Sie wollen, können Sie mit zu mir kommen, etwas essen und eine Tasse Tee trinken, bevor Sie in Ihr Hotel gehen. Wo wohnen Sie?«
»Ich weiß nicht«, gab er zur Antwort. »Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Nennen Sie mir einfach eins in der Nähe.«
Sie musterte ihn eine Weile und sagte nach kurzem Zögern: »Ich könnte Ihnen ein Zimmer vermieten, das leer steht, wenn Ihnen das recht ist. Es ist nicht luxuriös, aber immerhin hätten Sie ein Zimmer für sich und müssen nicht auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Das Geld könnte ich gut gebrauchen.«
Da ihm der Gedanke fürchterlich war, jetzt allein zu bleiben, nahm er ihr Angebot an. Er musste unbedingt einen Menschen in der Nähe wissen, jemanden, der die kleine Flamme seiner Hoffnung am Leben erhielt.
»Vorher würde ich gern noch mit der Blockwartsfrau sprechen«, sagte er.
Sie gingen nach unten und stießen dort auf eine füllige Frau mit straff zurückgekämmtem Haar und einem Knoten im Nacken. Bei ihrem Anblick hatte Arnaud den Eindruck, als quelle das Böse aus jeder Pore ihres Gesichts.
»Sie schon wieder…«, fuhr sie die junge Frau an. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich Sie hier nicht rumschnüffeln sehen will. Sie haben hier nichts mehr zu suchen. Die Polizei hat gesagt, ich soll jeden melden, der hier auftaucht, und das tu ich jetzt auch.«
»Haben Sie der Polizei Meldung vom Besuch der Französin gemacht?«, fragte Arnaud. Die Frau sah sich erstaunt nach ihm um; sie schien ihn noch gar nicht bemerkt zu haben.
»Wer sind Sie? Was geht Sie an, was ich tu?«, schrie sie ihn an.
»Ich bin ein Verwandter des Ehepaars Levi, und meine Frau war hier, um…«
»Ach nee, noch so’n Drecksjude!«, brüllte sie.
Inge Schmid forderte ihn mit Blicken auf zu schweigen.
»Nein, Frau Bruning, der Herr ist kein Jude, sondern nur weitläufig mit den Levis verwandt. Seine Frau ist ihre Nichte. Er ist hier, weil er sie sucht. Bestimmt haben Sie sie gesehen.«
Mit hasserfülltem Blick stieß sie die beiden von sich und schrie dazu: »Raus hier, sonst hol ich die Polizei. Hier war keiner. Zum Glück ist das Haus jetzt judenfrei.«
Den heftigen Stößen der Frau ausweichend, sagte Arnaud
ihr ins Gesicht: »Ich weiß, dass meine Frau hier war. Sagen Sie mir, wohin sie gegangen ist und ob sie Ihnen etwas gesagt hat …«
»Raus! Hier war keiner.«
»Wo ist das Ehepaar Levi?«, fuhr er fort. »Sie müssen das wissen, Sie bekommen doch alles mit.«
»Das geht Sie überhaupt nichts an! Sie verschwinden hier, und zwar dalli. Hoffentlich kommen die Drecksjuden nie wieder.«
»Die Levis haben sich doch bestimmt verabschiedet und gesagt, wohin sie wollten.« Er ließ nicht locker.
»Ach was.
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