Das Blut der Unschuldigen: Thriller
als einfach sein werde, unterließ es aber, ihm zu widersprechen.
Nach dem Essen suchte Arnaud die französische Botschaft auf, ohne dort den Bekannten des Schwagers von Paul Castres anzutreffen. Man ließ sich seine Karte geben und forderte ihn auf, am nächsten Tag um acht Uhr wiederzukommen.
Vor der Botschaft stieg er in ein Taxi und gab dem Fahrer eine der Anschriften an, die ihm sein Schwiegervater genannt hatte. Der Mann sah ihn durch den Rückspiegel auf sonderbare Weise an.
»Sie sind Franzose«, riet er.
»Ja.«
»Sie sprechen gut Deutsch, aber mit Akzent …«
»Sicher«, räumte Arnaud ein.
»Da, wo Sie hinwollen, leben viele Juden«, fuhr der Mann fort und schien auf die Reaktion seines Fahrgastes zu warten.
Arnaud beschloss, nicht zu antworten. Was hätte er dem Mann auch sagen können, der möglicherweise Nazi war.
»Den Juden geht es nicht gut«, ließ der Taxifahrer nicht locker.
»Ich weiß«, gab Arnaud unwillig zurück.
»Es heißt, sie haben die Schuld an allem«, fuhr der Mann fort. Er sagte es so, dass es spaßig klang.
»Das war mir nicht bekannt …«
»So, hier sind wir. Das ist das Haus, zu dem Sie wollen, und das schwarze Auto davor ist ein Wagen der Gestapo.«
Arnaud stieg aus und ging rasch auf das Gebäude zu. Er klingelte mehrere Male, bis eine zierliche Frau öffnete. Sie wirkte unübersehbar unruhig und sah ihn ängstlich an.
»Ich möchte zu Professor Bauer«, sagte er statt einer Begrüßung.
»Wer sind Sie?«
»Hier ist meine Karte. Ich bin ein entfernter Verwandter von
Sara und Isaak Levi. Meine Frau ist ihre Nichte. Auch meine Schwiegereltern in Paris kennen den Professor. Von ihnen habe ich die Anschrift bekommen.«
Die Frau sah ihn aufmerksam an. Sie schien nicht sicher zu sein, was sie tun sollte, trat dann aber beiseite, ließ ihn eintreten und bat ihn, im Wohnzimmer zu warten.
Es dauerte nicht lange, bis Professor Bauer eintrat. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er mit seiner hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt noch eindrucksvoll. Seine tiefblauen Augen strahlten Entschlusskraft und Energie aus.
»Mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich heiße Fernand Arnaud und bin Professor für Geschichte an der Universität Paris. Meine Frau Miriam ist die Nichte der beiden Levis. Weil sie verschwunden sind, ist meine Frau nach Berlin gefahren und … ebenfalls verschwunden.«
Mitgefühl für den Mann, der so unversehens in sein Haus gekommen war, trat in Bauers Augen.
»Ja, ich kenne die Levis und weiß, dass sie verschwunden sind. Von Ihrer Frau weiß ich nichts. Ich bedaure.«
Die Frau brachte ein Tablett, auf dem ein Teeservice stand, stellte es auf einen Couchtisch und ging wortlos wieder hinaus.
»Meine Frau Lea. Sie und Sara waren eng befreundet. Genau genommen war sie Saras erste Freundin hier in Berlin.«
»Ja, das hat mir mein Schwiegervater gesagt«, murmelte Arnaud.
»Ihre Schwiegereltern habe ich vor einigen Jahren kennengelernt und sie danach noch einige Male gesehen, wenn sie die Levis besucht haben.«
»Was ist eigentlich mit ihnen geschehen?«, erkundigte sich Arnaud. Er hatte Angst vor der Antwort.
»Man hat sie fortgebracht. Sie sind nicht die Ersten, und sie
werden auch nicht die Letzten sein. Eines Tages wird es uns ebenso gehen.«
»Wie ist das möglich?«
»Wir sind Juden.«
»Aber …«
»Es ist unklar, wie sich die Sache verhält, aber jedenfalls werden Juden in sogenannte Arbeitslager gebracht. Keiner weiß, wo sich die befinden, denn niemand ist je von dort zurückgekehrt, um darüber zu berichten.«
»Aber warum denn? Ich verstehe das nicht.«
»Ich sagte ja schon: Wir sind Juden. Das genügt. Mit einem Mal haben wir aufgehört, Deutsche zu sein.«
»Und das bedeutet?«
»Dass sie uns unser Eigentum nehmen, wir keinerlei Rechte mehr haben, uns mühselig durchs Leben schlagen müssen, man uns in Arbeitslager bringt, damit wir die Waffenfabrikation in Gang halten, wir auf der Straße unseres Lebens nicht sicher sind und unseren Arbeitsplatz verloren haben … Mich hat man von meinem Lehrstuhl verjagt. Vierzig Jahre lang habe ich medizinische Vorlesungen gehalten, doch auf einmal sieht es so aus, als könnten sich die deutschen Studenten bei einem Juden mit etwas anstecken. Jetzt lebe ich sozusagen eingesperrt hier im Hause. Dabei kann ich noch von Glück sagen, denn eine ganze Reihe meiner Kollegen sind bereits verschwunden, genau wie die Levis.«
»Und auf welche Weise kommen Sie …«
»Sie meinen, wie
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