Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Stimme.
»Die Frau ist an einem Vormittag hier angekommen und hat sich fürchterlich aufgeregt, als sie den Buchladen gesehen hat. Wie ich sie aufgefordert hab, den Mund zu halten, hat sie mich beschimpft. Sie hat gesagt, wir Deutsche wären Barbaren, weil wir Bücher auf die Straße werfen und verbrennen und dann noch zwei arme alte Leute verschwinden lassen. Sie hat mir gedroht. … Das hat mich geärgert, und ich hab sie ›dreckige Jüdin‹ genannt. Sie hat gelacht und gesagt: ›Ja, ich bin Jüdin, und ich war nie so stolz darauf wie jetzt.‹ Ich hab noch mal gesagt, sie soll verschwinden, und sie hat nur gelacht und gefragt, wer ich eigentlich bin, dass ich sie aus der Wohnung ihrer Verwandten
rauswerfen will. Ich hab dann gesagt, wenn sie nicht geht … dann sind die Männer gekommen. Der Bruder meines Schwiegersohns war Scharführer bei der SA, und mein Schwager war bei der Gestapo. Sie hat den Männern gesagt, sie sollen sie ja nicht anfassen, weil sie französische Staatsbürgerin ist, sie könnten ruhig in der Botschaft anrufen … dann hat einer sie geschlagen, und sie hat ihn in die Hand gebissen. Daraufhin haben sie sie wieder geschlagen und mitgenommen.«
Tränen liefen über Arnauds Gesicht.
Inge Schmid drückte seine Hand im aussichtslosen Versuch, ihn zu trösten.
»Frau Bruning, sagen Sie, wo das Sturmlokal jener SA-Einheit war und in welcher Dienststelle der Gestapo der Schwager gearbeitet hat«, verlangte Inge Schmid mit fester Stimme.
Die Hauswartsfrau schrieb ihr das Gewünschte auf ein Blatt Papier, während sie unter Tränen flehte, man möge mit ihr und ihren Enkeln Mitleid haben.
»Ich hab Ihnen geholfen … sagen Sie, dass man das berücksichtigen soll … ich hab Ihnen geholfen«, schluchzte sie. »Ich weiß nicht, was danach passiert ist. Keiner hat mir was gesagt …«
»Wissen Sie, wie die beiden Levis umgekommen sind?«, stieß Inge Schmid kalt hervor.
»Nein … ich hab keine Ahnung … ich wusste gar nicht, dass die nicht mehr leben …«
»In einer Gaskammer. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, so zu sterben? Und wissen Sie, warum die beiden sterben mussten?« , fuhr Inge Schmid fort.
»Nein, nein.«
»Wir gehen jetzt, aber jemand wird kommen und Sie zur Rechenschaft ziehen. Sie gehören vor ein Gericht«, teilte ihr
Inge Schmid mit, im vollen Bewusstsein dessen, dass der Frau nichts geschehen würde.
Sie führte Arnaud hinaus wie ein Kind, das sich verirrt hat. Alle Wunden waren wieder aufgebrochen. In den letzten Minuten hatte er Schlimmeres durchgemacht als in all den Jahren, in denen er nichts von Miriams Schicksal gewusst hatte. Jetzt, da er endlich ihre Spur gefunden hatte, konnte er nicht ertragen, was er gehört hatte. Mit einem Mal besaß das, was sie erlitten hatte, eine für ihn nachvollziehbare Wirklichkeit. Sie war kein Phantom mehr, sondern hatte wieder Menschengestalt gewonnen.
Tag für Tag zog er in Begleitung eines Beamten der Botschaft durch die Stadt, traf mit Vertretern der neuen Herren zusammen, Amerikanern, Briten, Russen … Überall gab es Komitees, die den Versuch unternahmen, zu rekonstruieren, was in Deutschland unter dem Hakenkreuz geschehen war, Organisationen, die sich bemühten, den Aufenthalt Verschwundener zu ermitteln und die Listen derer durchzugehen, die man in Massenvernichtungslagern umgebracht hatte. Es war nicht einfach, Arnaud gerecht zu werden, war er doch nur einer von vielen Tausenden. Aber er hatte das Glück, dass sich ein Amerikaner namens John Morrow von seinem Fall beeindruckt zeigte.
Morrow war gleich ihm Geschichtsprofessor und hatte sich freiwillig zum Kampf gegen Hitler-Deutschland gemeldet. Jetzt war er im Berliner Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte stationiert und bemühte sich, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen, das in jener Stadt herrschte.
»Ich verstehe Ihre Sorge sehr gut. Ich nehme an, dass ich den Verstand verloren hätte, wenn meine Frau auf diese Weise verschwunden wäre. Sie ist ebenfalls Jüdin. Zwar stammt sie
aus New York, aber ihre Großeltern waren auf der Suche nach einem besseren Leben aus Polen nach Amerika ausgewandert.
So kam es, dass John Morrow ihn unterstützte und ihm Türen öffnete, die ihm sonst verschlossen geblieben wären. Schließlich entdeckten sie die Akten der Polizeiwache, auf die man Miriam Arnaud am 21. April 1939 nach ihrer Festnahme gebracht hatte. In nüchternen Worten hieß es da, sie sei noch am selben Tag einem Herzstillstand erlegen.
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