Das Blut der Unschuldigen: Thriller
empfinden Sie?«, fragte er.
Nach kurzem Schweigen biss sie sich auf die Lippe, faltete die Hände im Schoß und sagte dann: »Abscheu, und zwar vor mir selbst, vor den anderen Menschen und meinem Land. Es wird uns Deutschen nicht leichtfallen, mit uns selbst ins Reine zu kommen. Dieser Alptraum wird uns noch lange verfolgen.«
»Das haben sich die Deutschen selbst zuzuschreiben«, gab er hart zurück.
»Sie haben Recht. Ich bin, wie Sie wissen, eine von denen, die nicht versuchen, sich ihrer Verantwortung für das Vorgefallene zu entziehen. Ich bin im Lande geblieben und hätte mein Leben im Widerstand aufs Spiel setzen können, wie es so manch einer getan hat. Aber es war mein einziges Bestreben, weiterzuleben und darauf zu warten, dass alles vorüber geht.«
Auch das Datum, an dem man den jungen Mann, der Vater ihres Kindes war, in Auschwitz eingeliefert hatte, hatten sie gefunden, wie auch das Datum seiner Hinrichtung. Sie wusste also, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
»Und jetzt?«
»Ich hoffe, eine bessere Arbeit zu finden.«
Sie gestand ihm, dass sie während des Krieges zeitweise als Prostituierte gearbeitet hatte, um ihren Jungen ernähren zu können.
»Als mich niemand mehr als Putzfrau beschäftigen wollte, ist mir gar nichts anderes übrig geblieben. Man hat mir die Adresse eines Lokals gegeben, in dem deutsche Offiziere verkehrten, die auf Urlaub in Berlin waren.«
Ihm war klar, dass sie das tief aufgewühlt haben musste, doch sie gehörte nicht zu den Menschen, die aufgaben, sie richtete den Blick immer nach vorn.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er.
»Ich würde gern meine Ausbildung zur Lehrerin beenden. Vielleicht schaffe ich das ja. Günter ist jetzt sieben und nicht mehr so sehr auf mich angewiesen. Ich könnte abends lernen und tagsüber meiner Arbeit nachgehen.«
Inzwischen war sie als Telefonistin in einem Hotel tätig. Ihm
war klar, dass sie sich durchschlagen würde, denn sie war ein karges Leben gewohnt.
»Haben Sie nie überlegt, von hier fortzugehen?«
»Wohin, und wozu? Nein, ich glaube nicht, dass das gut wäre. Hier … hier weiß ich, wie ich leben kann. Das würde woanders sicher sehr viel schwerer sein. Um meines Sohnes willen möchte ich keine vermeidbaren Risiken auf mich nehmen. Er hat ein Recht auf ein besseres Leben, und mit unserem Land wird es wieder aufwärtsgehen. Wer weiß, was für Möglichkeiten sich da noch eröffnen.«
»Sind Sie nach wie vor Kommunistin?«
»Nein. Ich bin nur noch ich selbst.«
Das war sie in Wahrheit immer gewesen. Trotzdem beeindruckte ihn diese Antwort. Sie war gerade dreißig Jahre alt und sprach wie eine alte Frau, die den Glauben an alles verloren hat.
Eines Tages bat er Inge Schmid, ihn zu dem Haus zu begleiten, in dem die Levis gewohnt hatten. Er wollte mit Frau Bruning, der Hauswartsfrau, sprechen. Vielleicht war sie jetzt bereit, die Wahrheit zu sagen.
Inge Schmid versuchte, ihn davon abzubringen, weil ihr klar war, wie sehr ihn das schmerzen würde, doch als sie erkannte, dass er nichts davon hören wollte, erklärte sie sich bereit mitzugehen.
Frau Bruning war noch fülliger als beim vorigen Mal.
Als sie öffnete, erkannte sie die beiden sogleich und wurde leichenblass.
»Sie … was wollen Sie? Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts weiß.«
»Es hängt ganz allein von Ihnen ab, was mit Ihnen geschieht«,
teilte ihr Arnaud im vollen Bewusstsein dessen mit, dass er keinerlei Macht hatte, seine Drohung wahrzumachen. »Wir sind dabei, Listen mit den Namen derer zusammenzustellen, die den Nazis in die Hände gespielt und anständige Menschen ans Messer geliefert haben … Wenn Sie sich entschließen zu reden, bin ich vielleicht gnädig mit Ihnen.«
»Reden Sie, es bleibt Ihnen sowieso nichts anderes übrig«, fasste Inge Schmid nach.
Die Frau wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Man roch förmlich ihre Angst. Dann forderte sie die Besucher zum Eintreten auf.
»Ich bin allein mit einer Tochter und zwei Enkeln«, erklärte sie, »denn mein Mann ist tot, und mein Schwiegersohn ist in Russland gefallen. Wenn Sie mich anzeigen … weiß ich nicht, was aus uns werden soll …«
Inge Schmid fasste Arnaud am Arm, um zu verhindern, dass er der Frau seine Meinung sagte, so schamlos ihre Haltung auch war. Die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren, bestand darin, sie nicht übermäßig unter Druck zu setzen.
»Sprechen Sie«, sagte Inge Schmid mit freundlicher
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