Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Niemand wisse, wo ihre Leiche beigesetzt worden sei.
Während Arnaud das angegilbte Blatt las, das ein pflichtbewusster Beamter abgeheftet hatte, weinte er wie ein Kind.
Zwei Tage und Nächte war er völlig willenlos, unfähig zu sprechen, zu essen oder zu schlafen. Inge Schmid und John Morrow sorgten dafür, dass er keinen Augenblick lang allein war. Sie fürchteten, er könne sich etwas antun.
Schließlich bat Inge Schmid die Nachbarn, David anrufen zu dürfen. Mit John Morrows Unterstützung gelang es ihr, ihn in seinem Kibbuz nahe Haifa aufzuspüren.
Als die Verbindung nach langem Warten hergestellt war, trat sie in Arnauds Zimmer, wo dieser mit leerem Blick auf dem Bett lag.
»Kommen Sie. Ihr Sohn ist am Apparat.«
Er schien sie nicht zu hören, sah aber zu ihr hin, offenbar ohne sie wahrzunehmen.
»David ist am Apparat. Kommen Sie.«
Er richtete sich mühevoll auf, als wäre sein Körper tonnenschwer und als gehorchten ihm Arme und Beine nicht. Sie trat auf ihn zu, gab ihm die Hand und half ihm, aufzustehen und in die Nachbarwohnung hinüberzugehen.
Dort nahm er den Hörer, ohne ein Wort zu sagen. Darauf
hin sagte Inge Schmid laut und vernehmlich: »Sprechen Sie. Ihr Vater ist am Apparat.«
Noch eine Weile verharrte Arnaud in seinem Schweigen, dann brach er in Tränen aus. Man ließ ihn allein – das Gespräch zwischen Vater und Sohn vertrug keine Zeugen.
Als Arnaud Berlin verließ, übergab ihm John Morrow beim Abschied einen verschlossenen Umschlag. »Sie hatten mich gebeten, mich nach dem Schicksal der Eltern Ihrer Frau zu erkundigen. Das habe ich getan. Wie leider nicht anders zu erwarten, sind sie in einem Vernichtungslager umgekommen.«
Als Arnaud allein war, öffnete er den Umschlag und las aufmerksam die Blätter, auf denen die Tragödie von Miriams Eltern verzeichnet war. Er würde David nicht nur mitteilen müssen, was seiner Mutter geschehen war, sondern auch das Grauen, das seine Großeltern durchlebt hatten.
Vier Tage später nahm er seinen Sohn in Paris in Empfang. Sie weinten, bis sie keine Tränen mehr hatten, sprachen über Miriam, die Großeltern, die Vergangenheit und die Zukunft.
»Danke, Papa, dass du mich nach Palästina geschickt hast. Damit hast du mir das Leben gerettet. Du hast vorausgesehen, was kommen würde … und ich wollte in Frankreich bleiben! In dem Fall…«
»Denk nicht daran. Du bist gegangen und lebst. Nur darauf kommt es an. Du musst leben, nicht nur um deinetwillen, sondern auch um deiner Mutter und deiner Großeltern willen. Bestimmt haben die beiden während ihrer Leidenszeit in Auschwitz an dich gedacht und waren erleichtert, dich in Sicherheit zu wissen.«
Er sah, dass sich David verändert hatte. Vor ihm stand ein
selbstsicherer junger Mann, der ein Ideal hatte, für das er zu kämpfen bereit war.
»Ja, ich bin Zionist. Für uns Juden ist der Zionismus nichts anderes als die Rückkehr in die Heimat. Wären wir schon vor Jahrhunderten zurückgekehrt, wie wir es hätten tun sollen, wäre all das nicht geschehen. Auch wir Juden brauchen eine Heimat, und um sie zu verteidigen, haben wir die Hagana ins Leben gerufen. Das ist keine Armee, denn wir haben keine Uniformen und kaum Waffen, aber wir sind bereit, für unser Land zu kämpfen. Wenn wir das nicht tun, geht es uns wie unseren Glaubensgenossen unter den Nazis. Wie oft hat man uns in Ländern, die wir für unsere Heimat hielten, aus unseren Häusern vertrieben? Wie viele Pogrome müssen wir noch ertragen? Nein, jetzt ist damit Schluss. Wir werden nicht zulassen, dass man uns wieder wie Schafe abschlachtet, weil wir Juden sind, wir sind nicht bereit, uns erneut als Bürger zweiter Klasse behandeln zu lassen. Ich werde kämpfen, ich muss. Mama hätte das auch gewollt. Du hast mir selbst berichtet, wie sie dieser Frau Bruning entgegengetreten ist. Deshalb hat man sie geschlagen und zu Tode geprügelt. Wenn sie noch am Leben wäre, würde sie genauso denken wie ich und dich auffordern, mit uns nach Palästina zu gehen. Trotz der Einwanderungsbeschränkungen, die uns die englische Regierung auferlegt hat, kommen immer mehr Juden nach Palästina… Inzwischen haben die Engländer und die Amerikaner gemeinsam einen Ausschuss eingerichtet, der sich mit dieser Frage beschäftigt. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mit mir dorthin zurückkehrtest …«
»Gewiss, David, du musst kämpfen. Aber für mich wäre es eine Anmaßung, dort hinzugehen, ein Schwindel. Ich kann dich besuchen, mich eine
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