Das Blut der Unsterblichen
viele Minuten war sie jetzt schon tot? Hatte es bei ihm genauso lang gedauert?
„Wach auf, Kristina“, flüsterte er.
Die Minuten verstrichen. Kristina gab keinerlei Lebenszeichen von sich.
„Wach auf, bitte“, wiederholte er eindringlich.
Es begann mit einem Zucken des Zeigefingers ihrer rechten Hand. Das Zucken griff auf die Hände über, dann auf die Arme und schließlich auf den gesamten Körper. Es sah aus als würde ihr jemand viele kleine Stromschläge verabreichen. Mit einem unfassbar tiefen, keuchenden Atemzug schlug sie die Augen auf. Marcus hätte weinen können vor Erleichterung und Glück, als sie ihn ansah. Sie hatte es geschafft, sie war zurückgekehrt.
„Hallo“, sagte er lächelnd. „Willkommen in meiner Welt.“
Kristina blickte ihn verwirrt an. Sie fühlte sich benommen, so als wäre sie aus einer langen Narkose erwacht. Das Gesicht über ihr kam ihr vage bekannt vor. Dieser Mann stand ihr nahe, doch sein Name fiel ihr nicht ein. Undeutlich nahm sie wahr, dass er lächelte. Sie horchte in sich hinein. Ihr Körper fühlte sich gut an, ein wenig gerädert zwar, aber schmerzfrei. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch ihre Kehle war wund und rau. Es war schwer, so etwas wie eine Stimme zu produzieren. Sie schluckte und verspürte ein heftiges Brennen im Hals.
Ich habe schrecklichen Durst , dachte sie.
War ihre Verwandlung geglückt? Die Verwandlung!
Schlagartig kehrten die Erinnerungen zurück. Sie hatte Leilas Blut getrunken, war in Marcus’ Armen gestorben und nun war sie wieder erwacht. Sie versuchte ein Lächeln, war sich jedoch nicht sicher, ob es ihr gelang, sie hatte eher das Gefühl, eine Fratze zu ziehen.
„Ich habe Durst“, brachte sie krächzend hervor. Ihre Stimme klang kratzig und fremd.
„Natürlich hast du das“, sagte Marcus. „Ich werde mich schnellstmöglich darum kümmern.“
Kristina versuchte, sich aufzusetzen, doch die Kontrolle über ihren Körper fiel ihr noch schwer.
„Mach langsam“, sagte Marcus. „Du musst dich erst an das neue Leben gewöhnen.“
„Ich habe Hunger“, stellte sie fest, während sie sich mühsam aufsetzte.
„Du hast viel durchgemacht und dein Körper braucht jetzt Blut, um zu Kräften zu kommen. Sobald du ganz bei dir bist, gehen wir jagen. Das Blut eines Rehs oder Wildschweins wird dir gut tun“, schlug Marcus vor.
Kristina verzog das Gesicht. „Ein Tier? Ich weiß nicht.“
„Einen Menschen zu erlegen muss sorgfältig geplant sein“, erwiderte er. „Doch du brauchst schnell Nahrung.“
Kristina lehnte sich stöhnend an das Kopfende des Bettes. Ihre Eingeweide brannten und krampften sich schmerzhaft zusammen. Der Gedanke an Blut rief noch immer eine menschliche Abscheu in ihr hervor, gleichzeitig aber auch eine unbestimmte Gier. Sie beschloss, Marcus’ ersten Vorschlag anzunehmen. Ein Versuch war es auf jedem Fall wert. Für einen Moment entglitten ihr die Gedanken und sie blickte sich verwirrt um, bis ihr wieder einfiel, wo sie sich befand und warum. Ein unangenehmer Geruch stieg in ihre Nase. Sie schnupperte und verzog das Gesicht.
„Ich muss mich duschen“, stellte sie fest.
„In Ordnung, ich helfe dir“, erwiderte Marcus.
Noch etwas wackelig auf den Beinen schlurfte sie in das Badezimmer. Marcus ließ Wasser in die Wanne und half ihr beim Entkleiden. Seufzend glitt sie in das Wasser. Es kitzelte und wärmte ihre kalte Haut. Marcus ging hinaus und brachte kurz darauf frische Kleidung und Handtücher. Während er die Sachen auf den Waschtisch legte, fiel ihr Blick auf die blutbespritzte Toilette.
„Meine Verwandlung war bestimmt kein schöner Anblick“, sagte sie.
„Eine Verwandlung ist niemals ein schöner Anblick“, erwiderte er.
„Ekelst du dich jetzt vor mir?“
Er beugte sich zu ihr hinab und hob ihr Kinn an. „Sei nicht albern. Wie könnte ich mich jemals vor dir ekeln?“
Er versuchte, sie zu küssen, doch sie wandte den Kopf ab. „Ich muss mir erst die Zähne putzen. Ich habe einen scheußlichen Geschmack im Mund. Würdest du mir bitte die Zahnbürste geben?“
Marcus reichte ihr das Gewünschte. „Ich gehe wieder raus, wenn du noch etwas brauchst, dann ruf mich.“
Nach dem Bad nahm Kristina sich die Zeit, um sich im Spiegel zu betrachten. Die blasse, durchscheinend wirkende Haut war gewöhnungsbedürftig, doch dafür sah sie zehn Jahre jünger aus. Die Fältchen um ihre Augen und auf der Stirn waren verschwunden und ihre Haare glänzten in dem satten Rotbraun ihrer Jugend. Sogar
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