Das Blut der Unsterblichen
doch kommt es mir so vor, als wären die Menschen das dumme Schlachtvieh, während die Unsterblichen sich für eine Art Herrenrasse halten.“
„Wir sind den Sterblichen überlegen. Das bedeutet zwar nicht, dass wir uns anmaßen können, sie zu unterdrücken, doch unsere Überlegenheit verleiht uns eine gewisse Macht. Seit Jahrtausenden versuchen wir, diese Macht in Zaum zu halten. Aus diesem Grund wurde der Ältestenrat ins Leben gerufen. Er kontrolliert die Unsterblichen, damit niemand seine Macht missbraucht. Seit ich dich kenne, sehe ich uns alle als Menschen, die Sterblichen genauso wie die Unsterblichen, wir unterscheiden uns nur aufgrund unserer Lebenserwartung, unserer körperlichen Stärke und der Art, wie wir uns ernähren, doch viele Unsterbliche sehen das anders.“
Kristina schwieg. Sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte.
„Du kannst nichts mehr ändern, an dem was du bist“, beschwor Marcus sie. „Belaste dich nicht schon mit Gewissensfragen, bevor du überhaupt als Unsterbliche gelebt hast.“
Sie seufzte. „Du hast recht. Ich weiß noch viel zu wenig über euch.“
Marcus nickte. „Mach einfach einen Schritt nach dem anderen und grüble nicht über das Morgen nach, sondern konzentriere dich auf das Hier und Jetzt, okay? Das Blut eines Tieres zu trinken ist nichts anderes, als ihr Fleisch zu essen.“ Er drückte aufmunternd ihre Hand. „Du wirst dich daran gewöhnen, glaube mir. Es gibt gute und weniger gute Unsterbliche, genauso wie es gute und weniger gute Sterbliche gibt. Du musst nur bereit sein, dich für dieses neue Leben zu öffnen.“
War sie bereit? Marcus hatte ihr nie die Gelegenheit gegeben, sich mit seiner Welt auseinanderzusetzen. Seit er vor ihrer Tür aufgetaucht war, waren sie ständig auf der Flucht gewesen, hatten nicht nur einmal um das nackte Überleben kämpfen müssen. Und obwohl sie nun eine Unsterbliche war, stand ihr Leben noch immer auf Messers Schneide.
Marcus stieg aus und öffnete die Beifahrertür. „Komm“, sagte er. „In spätestens einer Stunde wird es hell. Wir müssen uns beeilen.“
Sie folgte ihm zum Eingang und kletterte über die Absperrung. Vor ihrer Verwandlung hätte sie das niemals geschafft, doch jetzt überwand sie den Zaun mit Leichtigkeit, wenn auch noch nicht in einem einzigen Sprung wie Marcus.
Sie ignorierten den Wanderpfad und strebten direkt auf die Bäume zu. Kristinas Augen stellten sich langsam auf das Sehvermögen der Unsterblichen ein. Die Nacht erschien ihr gar nicht mehr so dunkel, eher wie eine hellgraue Dämmerung. Marcus schnupperte kurz und führte sie dann zügig tiefer in den Wald hinein. Bald darauf erblickten sie die Rehe. Sie hoben die Köpfe und nahmen Witterung auf. Marcus nickte Kristina zu, schoss vor und stürzte sich auf ein am Rande stehendes Tier. Kristina hielt inne und beobachtete, wie die anderen Rehe in den Wald flüchteten. Die Jägerin in ihr wäre ihnen am liebsten gefolgt.
„Komm“, rief Marcus, während er das zappelnde Reh auf den Waldboden drückte. „Komm und nähre dich!“
Der wilde Moschusgeruch des gefangenen Tieres stieg in ihre Nase. Sie spürte, wie sich die Fangzähne aus ihrem Kiefer schoben, ihr Zahnfleisch durchstießen und sich um die Eckzähne schlossen. Langsam ging sie auf Marcus zu und kniete sich neben ihn. Sie blickte in die panischen Augen der hilflosen Kreatur zu ihren Füßen und suchte nach Mitleid in sich, einem Anflug von Barmherzigkeit, doch alles, was sie fand, war der brennende Hunger. Mit dem Fingernagel öffnete Marcus die Halsschlagader, senkte seinen Kopf auf die Wunde und begann, zu trinken. Die Gegenwehr des Tieres erlahmte. Kristina beobachtete sein Tun mit einer eigenartigen Mischung aus Abscheu und Gier. Der wilde Geruch des Tieres stieß sie ab, doch der köstliche Duft des warmen Blutes überlagerte alle anderen Gerüche und füllte ihre Sinne mit Begehren. Das Brennen in ihren Gedärmen wurde fast unerträglich.
Marcus hob den Kopf. „Du bist dran. Trink!“
Kristina starrte auf das auslaufende Blut. Marcus’ Worte nahm sie kaum war, nur noch diesen köstlichen Duft. Alles verschwamm vor ihren Augen und die Gier wurde zu einer unbezwingbaren, treibenden Kraft. Ihr Kopf senkte sich auf den Hals des Tieres, ohne, dass sie sich bewusst dafür entschieden hatte. Ihre Lippen schlossen sich um die Wunde, aus der das Blut im Rhythmus des Herzschlags hinausgepumpt wurde. Sie trank und schluckte und trank erneut und schluckte. Das Blut rann
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