Das Blut der Unsterblichen
wirst du gleich brauchen“, sagte er, als er eingestiegen war, und Kristina die Cola und die Kaugummis reichte.
Sie sah ihn verständnislos an. Er ignorierte ihren fragenden Blick, startete den Wagen und fuhr weiter. Einige Minuten später bog er in eine dunkle Seitenstraße und hielt am Straßenrand.
„Warum halten wir an?“, fragte Kristina.
Er zog die Phiole mit Leilas Blut aus der Jackentasche und hielt sie ihr hin. „Es ist soweit.“
Kristina schluckte schwer. „Soll ich das jetzt etwa trinken?“
Er nickte. „Ja. Wenn du es wirklich willst.“
Kristina biss sich auf die Unterlippe und zögerte. Angst stieg in ihr empor. Wenn sie Leilas Blut trank, gab es kein zurück, dann würde sie zu einer Unsterblichen werden. Würde sie dann noch dieselbe sein?
Marcus drückte ihr die Phiole in die Hand. „Tu es, Kristina. Tu es für dich, für mich und für das Leben unserer Tochter.“
Hatte sie überhaupt eine Wahl? „In Ordnung.“
Sie zog den Glaskorken raus und starrte wie gebannt auf die dunkelrote Flüssigkeit. Vorsichtig schnupperte sie daran. Es roch pudrig und schwer, wie verrostetes Eisen.
„Ich habe Angst“, wisperte sie.
„Ich weiß, doch du musst es tun, wenn du leben willst!“
Wollte sie leben? War nicht gerade ihr Sehnen nach dem Tod das, was sie ausmachte? Würde sie Marcus auch als Unsterbliche noch lieben?
„Tu es!“, beschwor er sie.
Kristina atmete tief ein, hielt die Luft an, setzte die Phiole an die Lippen und leerte sie in einem Zug. Das Blut war kalt und dickflüssig und schmeckte wie eine geschmolzene Kupfermünze. Sie verzog das Gesicht, schlug die Hand vor den Mund und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken.
„Atme tief ein und aus, du darfst dich jetzt auf keinem Fall übergeben. Trink am besten etwas“, sagte Marcus und öffnete das Päckchen mit den Kaugummis. Sie tat wie geheißen, nahm einen Schluck Cola und konzentrierte sich auf ihren Atem. Die Übelkeit ebbte langsam ab. Als Marcus ihr einen Kaugummi reichte, nahm sie ihn dankbar an, noch immer hatte sie diesen unangenehmen, metallischen Geschmack im Mund.
Marcus ließ den Motor an und fuhr weiter. „Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis die Wirkung einsetzt“, sagte er. „Doch bis dahin müssen wir unbedingt einen sicheren Unterschlupf gefunden haben.“
„Wird es sehr schlimm werden?“, fragte Kristina.
Er ließ sich Zeit, bevor er antwortete, was ihre Befürchtungen bestärkte.
„Ich will nicht lügen“, sagte er schließlich. „Es wird schmerzen, sehr sogar, doch denke immer daran: Am Ende des Leids wartet die Unsterblichkeit auf dich.“
Marcus entschied sich für einen anonymen Hotelkomplex am Stadtrand. Nachdem sie eingecheckt hatten, fuhren sie mit dem Aufzug in den achten Stock hinauf. Das Zimmer war geräumig und zweckmäßig. Ein Schreibtisch, ein Doppelbett und ein Schrank aus Buchenholz. An der Wand hingen Bilder des spanischen Malers Joan Miró. Kristina setzte sich auf das Bett und sah zu, wie Marcus den Koffer im Schrank verstaute. Anschließend nahm er eine Flasche Wasser aus der Minibar, setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme. Kristinas Magen knurrte und sie überlegte, ob sie vielleicht noch etwas essen sollte, eine Art Henkersmahlzeit, doch Marcus riet ihr ab. „Du wirst dich ständig übergeben müssen. Ein voller Magen macht diese Tortur nur noch schlimmer.“
Während sie die Digitaluhr am Fernseher im Auge behielt, überlegte sie, was sie als Letztes gegessen hatte und wünschte sich im Nachhinein, sie hätte es mehr genossen. Die Sekunden verstrichen, vereinten sich zu Minuten und schließlich zu einer vollen Stunde. Wann würden die ersten Symptome einsetzen?
„Ich habe Angst“, sagte sie in die Stille hinein.
Marcus streichelte ihren Handrücken. „Das musst du nicht. Ich bin bei dir und werde dir helfen, die Verwandlung durchzustehen.“
„Was ist, wenn es nicht funktioniert?“
„Es wird funktionieren! Das Blut unserer Tochter ist stark und es wird eine starke Unsterbliche aus dir machen.“
Kristina sah ihn zweifelnd an. „Ich spüre noch gar nichts. Ist das normal?“
Marcus drückte sie aufmunternd. „Sei unbesorgt, alles verläuft nach Plan. Versuche, ein wenig zu schlafen.“
Kristina bettete ihren Kopf an seiner Schulter und schloss die Augen. Es war schwer vorstellbar, dass sie sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in eine Unsterbliche verwandeln würde und das nur, wegen ein paar Milliliter Blut.
Im
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