Das Blut des Skorpions
bemerkte, die dunkelblauen Augen und die aufrechte, anmutige Haltung, beides ungewöhnliche Eigenschaften bei Frauen aus dem niederen Volk.
Während die Unbekannte sich mit flatternden Röcken entfernte, sinnierte der Kardinal, wie seltsam es doch war, eine Frau aus dem Volk, womöglich gar eine Zigeunerin ihrer Kleidung nach zu urteilen, mit so sicherer, unbefangener Haltung aus den Privatgemächern von Monsieur de Simara kommen zu sehen, als wäre sie dort zu Hause.
Noch dazu zu dieser frühen Stunde!
Aber in Rom war in diesen Zeiten alles und noch viel mehr möglich, auch dass ein Bischof, obendrein ein Jesuit, ein Verhältnis mit dieser Art von Weibsbild unterhielt.
Sein boshafter Gedanke verflüchtigte sich jedoch so schnell, wie er gekommen war. Es gab ernstere Dinge, um die man sich Sorgen machen musste, als die Zerstreuungen und merkwürdigen Vorlieben seines Nächsten.
Azzolini stieg rasch die Treppe hinauf und wurde in das Arbeitszimmer des Bischofs geführt, der ihn bat, in einem prunkvollen Sessel neben einem der hohen Fenster Platz zu nehmen.
De Simara legte wortlos ein Blatt Papier auf das Tischchen daneben.
Durch die ungewohnte Zurückhaltung des Bischofs neugierig gemacht, betrachtete der Kardinal das Blatt.
»Interessant«, bemerkte er, »und, wenn ich mir ein ästhetisches Urteil erlauben darf, auch gut gemacht. Wollt Ihr so freundlich sein, mir zu sagen, um wen es sich handelt?«
»Wir haben es mit einem Glücksfall zu tun, Eminenz. Eine meiner Mitarbeiterinnen hat mir die Zeichnung gerade gebracht. Das ist er! «
» Er? Heilige Jungfrau!« Azzolini sprang erregt auf, ging zum Fenster und studierte das Porträt noch einmal genauer.
»Wie… Wie seid Ihr…?«, stotterte der Kardinal.
»Ein Glücksfall, wie gesagt. Ein junger Maler, ein Freund meiner Agentin, hat die Zeichnung in Santa Maria Maggiore angefertigt, kurz nach dem Mord an Pater Stoltz. Er hatte keine Ahnung, wen er da porträtierte, und glaubte, es sei einfach ein Bettler, der ihn zuvor angerempelt hatte. Er beschloss, ihn zu zeichnen, um sich sein Gesicht einzuprägen und sich später an ihm rächen zu können. Dieser Maler scheint ein Heißsporn zu sein, dessen Ehrgefühl in keinem Verhältnis zu seinem bescheidenen gesellschaftlichen Rang steht. Jedenfalls können wir uns bei seinem aufbrausenden Charakter bedanken. Wenn er gewusst hätte, dass er es mit dem gefährlichsten Auftragsmörder Europas zu tun hat!«
Der Bischof berichtete der Reihe nach, was dem Maler zugestoßen war und wie seine Informantin Kenntnis davon erlangt hatte.
»Erstaunlich, wirklich erstaunlich!«, murmelte Azzolini. »Mir scheint, dieser junge Mann hat, obschon er von einfacher Herkunft ist, viel Mut und Tüchtigkeit bewiesen. Heilige Muttergottes, dreimal dem Skorpion zu begegnen und noch unter den Lebenden zu weilen. Einfach unglaublich! Aber ich habe auch gute Neuigkeiten.«
Aus dem Ärmel seines Talars zog der Kardinal die Namensliste und reichte sie dem Bischof.
»Die Spur, auf die uns Pater Kircher gebracht hat, war offensichtlich die richtige«, sagte er. »Das ist die Liste der Novizen, die im Jahr 1622 zusammen mit Kircher in Paderborn studiert haben. Pater Stoltz, Pater Klamm und Pater Baumgartner stehen darauf sowie weitere achtzehn Personen, die nach Alter und Aufnahmedatum der Gesuchte sein könnten. Ich habe bereits überprüft, wer von ihnen noch lebt und sich zur Zeit in Rom aufhält. Seht, es sind nur drei Namen außer dem von Kircher. Wenn wir Kircher einmal ausschließen, und das können wir wohl, beschränkt sich unsere Suche auf diese drei Personen. Mit der Zeichnung und dieser Liste müssten wir ihn endlich fassen.«
»Gestattet mir, etwas weniger optimistisch zu sein, Eminenz«, entgegnete der Bischof. »Obwohl ich ihm nie persönlich begegnet bin, glaube ich, den Skorpion nur allzu gut zu kennen. Wir sollten ihn nicht unterschätzen. Auch wenn wir uns jetzt einen Vorteil verschafft haben, bleibt er dennoch ein gefährlicher Gegner. Dieser Mann ist eine lebende Legende. Gewiss, wir sind jetzt zum ersten Mal in der Lage, mit gleichwertigen Mitteln gegen ihn zu kämpfen. Denkt aber daran, dass wir nicht wissen, über welche Informationen er wirklich verfügt, weshalb wir nicht vernünftigerweise behaupten können, ihm einen Schritt voraus zu sein.«
»Ihr habt recht, de Simara, ich sollte meine Zuversicht dämpfen. Immerhin müssen wir jetzt weniger Kräfte vergeuden, weil wir sie auf bestimmte Ziele richten können.
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