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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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verhalte sich, so schien es ihr jetzt ganz zweifelsfrei, dem durchs Fenster zu ihr geflogenen Tommy gegenüber, wie ein Mann sich zu einer Frau verhielt, in die er verliebt war. Die Rollen hatten sich vertauscht. Sie sah etwas, das sie gar nicht sehen sollte. Das waren keine Eindrücke für eine Frau. Eine Frau konnte damit nichts anfangen. Solche Bilder, diesen Knabenmann hingerissen wie ein Fresko anzustarren, das tat ihr nicht gut. Ändern konnte sie es freilich nicht. Ihm tat es auch nicht gut. Wenn er schon eine ältere Geliebte hatte, dann durfte die nicht zu sehr von ihm beeindruckt sein. Er hätte sich ihr gegenüber zumindest ein wenig defizient fühlen müssen. Er hätte lernen müssen, sich für seine Unreife zu schämen, anstatt sich darin noch bestätigt zu fühlen. Der fensterputzende Dichter, dieser kleine Großstadtstreuner verweiblichte sich unter ihrer wehrlosen Anhimmelung. Es war alles nicht gut und richtig so – sie war dabei so unglücklich, Wereschnikow womöglich so verzweifelt, daß wirklich etwas kaputtging. Er habe neulich nachts sein Herz brechen hören – im Ernst, es habe einen hörbaren Knacks gegeben, wenn er nicht gewußt hätte, woher das kam, hätte er den Notarzt gerufen. Aber es war ja allzu klar, daß es auf Erden keinen Arzt gebe, der ihm hätte helfen können. So etwas anzuhören, glaubwürdig und unter Tränen vorgetragen, dazu bedurfte es Nerven und einer unverbrüchlichen Liebesgeduld, die sie gegenwärtig gar nicht aufbrachte.
    Und was Kasias Zynismus in Fragen der Lüsternheit anging, so wollte sie davon erst recht nichts mehr hören. Nichts war ihr inzwischen so fern wie die Vorstellung von Wollust und erotischem Genießen. Sie war zu verliebt, um in solchen Kategorien zu denken. Es war im Gegenteil so – kaum im geheimen auszusprechen, schon gar nicht vor anderen –, daß der eigene Genuß gar keine Rolle mehr spielte, wenn sie Tommy in ihren weichen, wohlgestalten Armen hielt – es war vielmehr das Erlebnis seiner Rücksichtslosigkeit, seines knabenhaften Egoismus, was sie bezauberte; ihn in seinem zielbewußten Eifer einzig um die eigene Lust bemüht zu sehen, weckte in ihr Gefühle, die sie, wenn sie je ein Kind geboren hätte, leicht als mütterlich hätte wiedererkennen können. Dies alles war über jedes Maß ergreifend und erregend, aber es war etwas Unheilvolles dabei. Am sicheren Seil aus großer Höhe in die Tiefe zu stürzen, mochte Körper und Seele in einen köstlichen Angstrausch versetzen – aber was war, wenn dies Seil fehlte? Gab es in ihrem Leben noch ein Seil? Wereschnikows Seilqualitäten standen in Frage. Was da Seil gewesen sein mochte, befand sich in Aufdröselung.
    Ein Halteseil war er, genau betrachtet, vielleicht auch nie gewesen. Wereschnikow war, das erkannte sie in allem Respekt, gleichermaßen wie der wilde kleine Störenfried, den Kasia herbeigeredet hatte, ein Kindskopf, ein enormer allerdings, ein ausgewachsener, der beträchtlichen Gedankenreichtum und Erfahrung und Familienstil und was nicht alles enthielt und der damit nicht geizte, sondern es unablässig von sich gab. Wereschnikow, so sagte sich Maruscha im stillen, wo sie um nichts als Gerechtigkeit bemüht war, hat mich mindestens ebenso erzogen wie Kasia. Ich habe an seiner Seite einen Abendkurs in Weltläufigkeit absolviert. Wenn er dabei war, funktionierte das Gelernte auch ganz gut. Die Leute glaubten, mondäne Verhältnisse hätten schon ihre Wiege umgeben, auch sie verfüge über eine dieser faszinierenden Biographien, wie Wereschnikow sie gern in gedrängter Form entwarf: »Vater türkischer Rabbiner, Neffe von Albert Einstein, Mutter Vogue-Modell in den vierziger Jahren, von Blumenfeld photographiert, illegitime Rothschild, numidisch reich …« Man nahm ihr so etwas inzwischen ab, oder besser, man setzte es voraus. Sie mußte Wereschnikow dankbar sein, und sie war es auch. Maruscha war generös und liebte die Dankbarkeit. Es machte sie glücklich, wenn sie Dankbarkeit in sich aufkommen fühlte, und es gehörte zu ihrem gegenwärtigen Unglück, daß die Liebesunruhe jede andere Empfindung überstrahlte und blaß und fad werden ließ.
    »Ich frage mich, was er denkt.« Das entfuhr ihr unwillkürlich. Sie hätte so gern gewußt, ob Wereschnikow sie schon aufgegeben habe, aber Kasia glaubte, sie spreche von Tommy: »So ein junger Mensch, da fragt man sich doch nicht, was der denkt, so ein junger Mensch.«
    Maruscha tat nichts, um das Mißverständnis aufzuklären.

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