Das Blutbuchenfest
Man wußte stets zuwenig, wenn man sich entschied. Sollte man sich deshalb etwa nicht entscheiden? Jeden Atemzug tat der Mensch in der Hoffnung, die dadurch erworbene Lebenszeit werde schon irgendwie passabel vorübergehen, obwohl es da doch für Bedenken reichen Stoff gegeben hätte.
Kasia war einen Augenblick lang sprachlos, als sie verstand, was geschehen war. Keine vierundzwanzig Stunden nachdem Breegen aus dem Kleiderschrank den Weg in die Freiheit des Treppenhauses gefunden hatte, fiel der Dritte, der bis dahin nur eine frivole Phantasie gewesen war, buchstäblich vom Himmel.
»Du willst nicht sagen, daß du dich mit einem Fensterputzer abgibst?«
Welches Bild war das: Einen schlanken jungen Mann mit dichtem dunkelbraunem Haarschopf schwindelfrei und schwerelos vor Maruschas in den Abendhimmel ragendem Atelierfenster erscheinen zu sehen, mit großen Gebärden die Arme weit ausstreckend, um mit dem Wischer in die äußersten Ecken zu gelangen, das war wie ein Tanz die Fassade entlang. Maruscha erkannte die Ernsthaftigkeit, die in der Miene des jungen Mannes lag. Er glaubte sich unbeobachtet, wie er sich da in seiner anmutigen Beweglichkeit vor ihr ausstellte, und Maruscha fürchtete sich, einen Schritt zu tun, damit er da draußen nicht stolperte. Beide erschraken, als er unversehens innehielt – hatte er gespürt, daß er nicht allein war? – und in den hohen Raum durch das Glas, das soeben klargewischte, hinabblickte und ihre Augen sich begegneten.
»Aber das ist ja wie in den allerdümmlichsten Filmen«, sagte Kasia, »das ist ja die reinste Dornröschen-Träumerei«, aber da half kein Spotten und Höhnen, die Erinnerung Maruschas an den Zustand der Unfreiwilligkeit, Unterworfenheit geradezu, war allzu bedrückend. Noch während sie ihre Beichte ablegte – sonderbare Beichte, die eigentlich einen Vorwurf gegen die Instanz enthielt, die sie entgegennahm –, fühlte sie, wie sie willenlos geworden war. Immer noch stand deutlich vor ihr, daß es nichts auf Erden gab, das sie daran gehindert hätte, das Fenster zu öffnen.
»Er ist Dichter«, das klang, als wollte sie das nicht zu Rechtfertigende irgendwie wenigstens ins Halbverständliche rücken.
»Noch schlimmer.« Kasia war nicht mit Dichtern zu bestechen, die kannte sie selber zur Genüge. Maruscha tadelte sich im stillen. Eine solche Bemerkung von Kasia war vorhersehbar, aber das ihr gewidmete Gedicht war doch gar zu schön, das mußte noch heraus, wenngleich nicht ganz wörtlich, es war im Original noch schöner, das bekam man so perfekt aus dem Kopf einfach nicht wieder hin: »Ich liebe dich, wie das Holz das Feuer liebt; erst wenn es Asche ist, stirbt auch das Feuer« – das Ganze natürlich in einem unnachahmlichen klanglichen Schmuck, serbisch – »ach was«, sagte Kasia, »das ist dritter Aufguß von russischem Symbolismus, das ist mißverstandener Sologub, wahrscheinlich noch nicht einmal von deinem kleinen Strolch selbst geschrieben, sondern in einer Anthologie geklaut, schon mehrfach verwendet, bei den älteren Hausfrauen, denen er am Fenster als Engel erschienen ist …« und noch Häßlicheres, »nicht schön«, kurzum – Kasia wurde streng.
Maruscha sei offenbar verrückt geworden, habe alles vergessen, was sie bei ihr, Kasia, gelernt habe: Man nehme doch als erwachsene Frau keinen jüngeren Liebhaber! Damit sei man verloren. Damit gebe man für alle Zeiten das Heft aus der Hand. Man gewöhne sich an gewisse Vorzüge – Kasia war zum Glück so taktvoll, dies nicht im Detail auszumalen, das hätte in Maruschas weißem Busen wie Feuer gebrannt – und verdamme sich von da ab zu einem Leben in Furcht und Leiden. Solch ein Kerlchen wisse ja noch gar nicht, was die Liebe sei – welche Suchtgefahren darin ruhten, welche Zerstörungskräfte. Der steige aus einem Bett ins andere und habe schon beim Rasieren vergessen, wo er zuletzt mit wem gelegen habe – böse Kasia, grausame Kasia, vielleicht war es wirklich so, wie sie das beschrieb, aber gab es nicht auch Ausnahmen? Und wenn es keine solchen gab, mußte man das Unglück herbeireden, wenn es noch gar nicht eingetreten war? Noch war der Liebesschmerz beherrschbar – er vermochte im Herz zu wüten und Maruscha geradezu nach Luft schnappen zu lassen, wenn sie auf den kleinen Tommy wartete – Tomislav hieß er und war tatsächlich nur so groß wie sie; am Fenster hatte er adlergroß gewirkt, aber Adler waren in ihrer körperlichen Pracht keine Geier, das Edle war eben
Weitere Kostenlose Bücher