Das Blutbuchenfest
ersten Sonnenstrahlen des Wissens abläuft und das in der langen Dauer der Dunkelheit die Erwartung des Lichtes oft vergißt, es nicht mehr für notwendig erachtet und auch im Dunkeln dauerhaft gut zurechtzukommen meint. Ich fand einen Stuhl und hielt von dort den geschlossenen Vorhang der Altarwand im Auge, auf dem einzelne Fäden der Goldstickerei glitzerten, weil sie ein Kerzenflämmchen auffingen. Der Mann hinter dem Vorhang und die drei Männer davor wechselten einander ab, ihre Stimmen umspielten einander, ergänzten einander, unermüdlich, ziellos. Nichts Besseres hätte ich tun können nach den letzten Stunden, als mich hier einzufinden. Wenn ich an Ivana dachte, graute mir geradezu. Wer oder was sollte sie trösten, die ohnehin prinzipiell nicht zum Empfang von Trost Bereite? Hoffentlich war es gelungen, die kleine Nichte weit wegzuschaffen.
Auf einmal entdeckte ich etwas Befremdliches in meinem Kerzendämmer. Neben der Altarwand leuchtete ein bläuliches Rechteck in dem technischen Licht eines Rechner-Bildschirms. Inmitten dieser eingeräucherten, in numinosem Dunkel liegenden Kirche, deren Gewölbe, schwärzlich bemalt, sich in raumloser Nacht verlor, war ein Licht ganz anderer Art aufgegangen, ein Licht, das weder Sonne noch Kerzen hervorbrachten, das Licht der neuen Zeit. Hatte dieser Bildschirm mit dem, was hier ablief, etwas zu tun? Wurde die Greisenstimme in ihrem sanften Singsang etwa elektronisch hervorgebracht? Unterlag gar jedes rußende Lämpchen hier zentraler Steuerung? Mir war diese Kirche als rettender Hafen erschienen, als eine Gegenwart, die der draußen sich ereignenden hoffnungslosen Wirklichkeit standhielt. Diese würdigen Männer mit weißen Schnurrbärten, wie sie in der byzantinischen Welt so gern getragen werden, sei sie serbisch, griechisch oder türkisch, gaben sie sich dazu her, in einer Inszenierung mitzuspielen? Verbeugten diese Frauen sich im Rhythmus eines elektronischen Programms?
Ich mußte den Bildschirm näher betrachten. Und schon wenige Schritte brachten die Aufklärung. Durch ein verborgenes Fenster war erstes kaltes Tageslicht schräg eingefallen. Und dies weiße Licht wurde von einer verglasten, schräggestellten Ikone aufgefangen. Das Glas war zum Reflektor eines ersten Morgenstrahls geworden. Der Tag aber war ein Fremder in diesen Mauern. Sein Eindringen hatte etwas Gewaltsames. In meiner Erleichterung staunte ich über die Vollendung der Augentäuschung. Immer noch sah die spiegelnde Ikone aus wie ein Bildschirm, erst allmählich, als sich Morgenröte in das frostige Weiß mischte, verschwand der fatale Effekt. Meine Friedensverzauberung kehrte dennoch nicht zurück, zu stark war der Eindruck gewesen, die sichtbare Welt sei nur eine Lichthaut, und dahinter warte etwas ganz anderes auf uns.
Jetzt stand mir noch eine lange Taxifahrt nach Sarajevo bevor, von dort sollte ich nach Hause fliegen. Das Land, so dünnbesiedelt, so leer, so eigenschaftslos mit seinem Berg und Tal, Wald und Feld, hielt meine Gedanken nicht fest. Die Frage, zu welcher Nation, welcher Kultur dies Bosnien denn nun gehöre, wer Anrechte auf dies Land habe, wo das Tranchiermesser anzusetzen sei, um die Stücke für Serbien, Kroatien und die Republik der Muslime herauszuschneiden, ließ sich während der gemächlichen Autofahrt, mit halbbetäubtem Blick aus dem Fenster, gewiß nicht beantworten. Aber einen Abschiedsgruß hielt das Land noch bereit, als wir uns über freies Feld einem Dörfchen näherten.
An seinem Eingang kauerte ein Mensch im Gras der Böschung, der sich aufrichtete, als wir näher kamen, und sich auf einem Bein pirouettenartig drehte, und dann tat es einen Knall. Die Windschutzscheibe platzte. Zwischen den Fahrer und mich rollte ein scharfkantiger kleiner Stein, den man mit einer Faust umfassen konnte.
Der Fahrer war nicht weiter erschüttert, er schien auf solche Angriffe vorbereitet. Mit seinem Telephon meldete er sich bei der Polizei; und es dauerte nicht lang, da hielt ein kleiner Wagen neben dem unseren, aus dem vier muskelbepackte Milizionäre mit Armbinden wie die Killer des Odysseus-Kommandos aus dem Trojanischen Pferd herauskletterten. Warum war der Steinschmeißer nicht gleich weggelaufen? Statt dessen lungerte er in der Nähe herum. Er drückte sich abwartend zwischen Zaunlatten und blickte zu uns herüber. Und als die vier sich in seine Richtung in Bewegung setzten, versuchte er noch immer keine ernsthafte Flucht, für die es jetzt auch zu spät gewesen wäre,
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