Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
Schlafzimmer.
    Standen die freundlichen und gar beglückenden Empfindungen, die mit diesen Bädern verbunden waren, in noch so schattenhafter Form vor Beate Colisées innerem Auge, als sie sich in der Stunde ihres durch die Verlassenheit verstärkten Unruhezustands allein auf die Wanderung durch ihre Wohnung machte? Zunächst konnte sie sich an der Wand abstützen. Jetzt kam die hohe Flügeltür. Auch die Klinke gab Halt, aber dann klaffte ein Loch in der Wand. Sie schob sich nach vorn. Vor dem Schrittemachen und Die-Füße-Heben schreckte sie zurück.
    Sie stand vollkommen frei da, ein sie selbst überraschender Zustand, das war also möglich. Sie verweilte, denn sie hatte vergessen, wohin sie wollte. Es stand sich nicht schlecht, dort wo sie war. Es wehte ein Lüftchen durch die Tür. Das war die Zugluft, die Winnie für die Tante so fürchtete. Die Bronchitis war geblieben als Andenken an die zahllosen Zigaretten, und in den Körper der Beate Colisée waren nach Urteil der Ärztin schon viel zu viele Antibiotika eingegangen. Es war aber ganz undramatisch, was dieses Ausharren zwischen zwei Türpfosten bewirkte – kein Stürzen, ein unentschlossenes Wackeln mit dem Fuß, eine in den Beinen aufsteigende Unsicherheit, eine Balanceverschiebung in den Massen, die von den Säulenbeinen getragen wurden, ein Weichwerden in den Fußgelenken, ein Einknicken, ein Hinsinken, das noch zögerte, ob es sich zu einem regelrechten Fall entwickeln wollte, ein Rudern mit den Armen, ein Öffnen des Mundes, aber ohne einen Laut zu entlassen.
    Dann schließlich nicht mehr weit über dem Boden doch der Fall, der kurze und heftige Aufschlag auf dem sonst unter jedem Schritt federnden Parkett, das jetzt aber steinhart war. Hörte man ein Knochenkrachen? Der dumpfe Aufschlag erschütterte den Boden, jetzt federte er wieder. Beate Colisée war von Schreck und Schmerz zugleich überwältigt. Ihr liegender Körper schien wie auseinandergefallen. Der Kopf war weggedreht, als habe er sich vom Hals gelockert. Alles tat weh, aber bei dem kleinsten Versuch, sich zu bewegen, schossen Messerstiche in die Hüftgegend, die ihr die Tränen in die Augen trieben.
    Lang kann sie nicht allein da gelegen haben, denn Winnies Plan sah vor, daß immer jemand im Hause war. Heute war es nun zu einem Loch in diesem Plan gekommen, von höchstens einer halben Stunde, aber was kann ein Kleinkind in einer halben Stunde alles anrichten, und was Beate Colisée, deren Gewicht ihr größter Feind war. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, als Winnie sich über sie beugte. Ihr war, als liege sie seit Tagen auf der Schwelle. Nur schreien war noch möglich, wenn sie berührt wurde, denn jedes Anfassen steigerte den Schmerz bis zum Erbrechen. Als Winnie sie streichelte, hätte Beate die geliebte Nichte am liebsten ins Gesicht geschlagen, aber die Arme gehorchten nicht. Ihre Miene wurde starr, die Hautfarbe verdunkelte sich, aus dem Mundwinkel lief Speichel.
    Winnie, der Spiegel! Die über jedes Maß Beeindruckbare! Sie konnte es nicht verhindern, sie mußte gleichfalls den Verstand verlieren. Was sie im Albtraum verfolgt hatte, war eingetreten: Allein mit Tante Beate, die wehrlos dalag und gerettet werden mußte von dem leichtgewichtigsten, zerbrechlichsten aller Kinder. Sie wagte sie nicht mehr zu berühren, sondern lief um sie herum, es war ein Hüpfen, und rief mit ganz hoher Stimme, Kleinkinderpiepsstimme, ihren Namen, als könne die Seele die verdreht daliegende Tante nicht verlassen, solange sie beim Namen gerufen werde.
    Aber Winnie war doch ein erwachsener Mensch! Das sagt sich so leicht, solange es nicht auf die Probe gestellt wird. Zu der Verzweiflung trat das Schuldbewußtsein. Wer weiß, wie lange sie untätig geblieben wäre, wenn nicht unversehens ihr Mobiltelephon gebebt hätte. Rotzoff war am Apparat, mit gewohnt harschem, ja herrischem Ton, der es aber schaffte, zu ihr durchzudringen – was brachte Rotzoff dazu, bei Winnie anzurufen? Rotzoff und sein elendes Fest, Rotzoff, der Kartenverkäufer, der an die Adressen der Agentur Markies heranwollte – die naheliegende, von mir freilich nicht vorhergesehene Konjunktion.
    Jetzt am Telephon war denn doch nicht von der Gästeliste die Rede. Winnies Todesnot drang durch die Lüfte Rotzoffs Ohren so glaubwürdig entgegen, daß er zu kommen versprach. Er kannte sie schließlich, die kleine Blonde, »das kleine Steiff-Tier«, dachte er auf dem Weg. Als er im Hause Colisée eintraf, waren die Sanitäter schon da.

Weitere Kostenlose Bücher