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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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sondern rannte in unentschlossenem Zickzack vor den in sicheren Sprüngen näher kommenden Milizionären hin und her; er war wie ein krankes Tier, das beißt und zugleich die Nähe der Menschen sucht. Als ich hinzukam, kniete der Steinschmeißer vor ihnen, die Hände im Nacken verschränkt. Er war von einem im Wurf hoch aufgereckten Mann zu einem schmächtigen Knaben geworden, eine magere Beute für die Vielgewaltigen. Angst stand nicht in den Augen des knienden, jetzt überaus zart wirkenden Übeltäters. Er war wohl Prügel gewohnt und zuckte kaum, als einer der Männer mit dem Stiefel nach ihm trat, weil er keine Antwort gab. Ein gefangener Soldat, der zufällig den ersten Schuß in einem langen Krieg abgegeben hat, konnte seinem Schicksal nicht stoischer entgegensehen.
    Als der bosnische Krieg kurz darauf schließlich ausbrach und der Belagerungsring um Sarajevo sich schloß, stellte ich mir denn auch vor, beim allerersten Anfang dieses Krieges, beim Beginn des Beginns dabeigewesen zu sein.

Achtundzwanzigstes Kapitel
    Bleibe im Lande …
    Randvoll waren meine Tage in Bosnien gewesen. Es drängte mich, das alles in vielen Stunden zu erzählen, obwohl ich doch wußte, daß es nur wenige Menschen gab, die solchen Erzählungen, und hätten sie vom Weltuntergang berichtet, freiwillig länger zuhörten. Winnie war ohnehin zu zerstreut, um ausführlichen Berichten zu lauschen, auch zuwenig neugierig – überhaupt nicht, nämlich –; war das ein besonders edler Zug oder Zeichen einer gewissen Stumpfheit, so frage ich mich jetzt? Damals empfand ich diese radikale Neugierlosigkeit als unerhörte Souveränität – was sollte schon passieren? Was anders als das Auf und Ab der Zufälle, die langen Phasen der Ereignislosigkeit und die jähen Schicksalsschläge? Außerdem erreichte ich sie gar nicht. Anfänglich drückte ich ihre Nummer ein paar Mal am Tag – in der Kleinstadt Prozor ohnehin vergeblich, dort war der Empfang öfter gestört; das paßte zu Prozor, es versetzte diese Metropole der schwarzen Lederjacken, deren Träger aber sämtlich ihr Mobiltelephon in der Hand hielten, in ein eigenes Inselreich mit einem anderen Rhythmus neben der im Rest der Welt ablaufenden Geschichte.
    Dann kam unversehens der Moment, in dem ich nervös wurde und sehr oft versuchte, sie zu erreichen. Ging der Ruf ergebnislos durch, versuchte ich es gleich noch einmal. Und dann noch einmal und noch einmal. Ich begann zu drängeln. Tun dürfen hätte ich das nur, wenn ich ihr Dringliches mitzuteilen gehabt hätte, aber ich wollte einfach ihre Stimme hören. Kurz bevor aus den vielen vergeblichen Versuchen ein nervöser Tick wurde, gelang es mir aufzuhören, in einem von Vernunft getragenen Willensakt. Mußte denn wirklich jeder Mensch unablässig erreichbar sein? Ich wäre doch der erste gewesen, der das Recht, sein Telephon abzustellen, verteidigt hätte. Wir kämen schon wieder zusammen. Winnie wiederzusehen, das wäre wie der Eintritt in ein anderes, neues Leben, in dem nichts galt, was ich in Ivanas Welt erfahren hatte. Wie verführerisch war diese Vorstellung eines wahren Doppellebens: in historische Räume einzutreten wie in verschiedene Zimmer und sie unberührt zu verlassen und gegen eine andere Umgebung einzutauschen, in der man nichts von dem ahnte, was soeben noch selbstverständlich war.
    Um Wereschnikow machte ich mir mehr Sorgen. Zu ihm kam ich wahrlich mit leeren Händen. Von einem sehr abgeklärten Standpunkt aus, in der Sicht des müßigen, kunsthistorischen Zeitvertreib suchenden Liebhabers, der einen größeren Mestrovic-Essay vorbereitete und sich dabei die Freude machte, auch das Herkunftsland des Meisters ein wenig auszukundschaften, mochte meine Reise vertretbar sein, aber Handfestes war dabei wahrlich nicht herausgekommen. Es war mir nicht einmal gelungen, eine Verbindung des großen Mannes zu den Lehmgruben und Brennöfen von Ivanas Vater herzustellen – das wäre immerhin ein Ergebnis gewesen. Aber auch nur eins für meinen Aufsatz – für mich wichtig, für unser Ausstellungsunternehmen aber der allerletzte Posten.
    Ich hatte von Zagreb her noch gar nichts in der Hand. Die Stiftung wich mir aus, man ließ mich warten, und bei meinem Besuch auf dem Weg nach Bosnien hatte mich der Direktor nicht einmal empfangen wollen. Es war die Politik, die alles so erschwerte, und ich kam allzu langsam dahinter; in Zagreb wollte man, wie ich eher zufällig von einem ganz untergeordneten Mann erfuhr, auf keinen Fall an

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