Das Blutbuchenfest
einem Projekt mitwirken, an dem auch Serbien beteiligt sei. Wäre das nicht aber, wie Wereschnikow gewiß gesagt hätte, der Witz an der ganzen Sache gewesen? Witzig würde in dieser Weltregion freilich niemand mehr so bald etwas finden.
Am späten Nachmittag kam ich in Frankfurt an. Winnie war nicht an den Flughafen gekommen, wie sie mir bei der Abreise versprochen hatte – nun, warum auch, das hätte zu ihr doch auch gar nicht gepaßt. Sie war in ihrem Leben schon so viel gereist, daß der Zauber von Abreisen und Ankünften bei ihr gründlich verflogen sein mußte. Das Winken mit dem Taschentuch, das ich als Kind bei meiner Großmutter kannte, war ihr mit Gewißheit fremd geblieben. In ihrem Leben hatte niemand gewunken. Eher wären ihr vielleicht die Irritation, das regelrechte Gestörtsein vertraut gewesen, das ich empfand, wenn meine Eltern übervoll mit Erlebnissen aus den Ferien zurückkehrten und mich, der ich mich an ihre Abwesenheit inzwischen gewöhnt hatte, aus meinen Beschäftigungen auf dem Boden des Kinderzimmers herausrissen, um mich zu küssen und mit Redefluten zu überschwemmen. Es war stets ein gewisses Unbehagen mit solcher Rückkehr verbunden; das fühlte Winnie womöglich gleichfalls noch so.
Aber meine Mitteilsamkeit war groß. Es zog mich zu Menschen, selbst zu bedenklicher Gesellschaft. Eine Woche in stummer Zeugenschaft, in der schönen finsteren Welt von Ivana, hatte einen Überdruck in mir erzeugt. Wußte ich denn nicht, daß der Ecktisch bei Merzinger der schlechteste Ort war, um Zuhörer für ein randvolles Herz zu finden? Entbrannte nicht gerade an diesem Ecktisch allabendlich ein Wettkampf des Gegeneinanderredens, des frechen Weghörens, des unverschämten Dazwischenschwatzens – hätte die Devise Guggisheims: »Do not talk while I am interrupting« nicht in blechernen Lettern über diesem Ecktisch prangen müssen?
Merzingers kleiner Saal war heute derart überfüllt, als hätte man sich verschworen, mir ein Gegenbild zur bosnischen Totenstille aufzuführen. Auch der Ecktisch war längst viel zu klein. Zwei Nachbartischchen waren ihm angegliedert worden. Ich stutzte, als ich Wereschnikow an einem dieser Tische entdeckte. Unvorstellbar wäre das bisher gewesen. Die schöne Blonde war nicht an seiner Seite, dafür Doktor Glück, schon ins Undeutliche davonschwimmend, der einzige bewährte Zuhörer. Was war geschehen, das diesen Löwen aus seiner stolzen Isolation ins Allergemeinste gelockt hatte? Er hatte mich noch nicht erkannt und sprach so engagiert, daß ich ihn nicht stören wollte. Es ging irgend etwas nicht in Doktor Glücks Kopf hinein. Er wirkte mit der in seiner Miene deutlich ansteigenden Leere offenkundig wie nicht überzeugt.
»Sie alle glauben noch an die deutsche Universität«, sagte Wereschnikow. »Sie unterhalten eine sterbende und im Verrecken noch massenhaft Unheil verbreitende Institution.« Wußte er, daß Glück Ehrensenator einer schwäbischen Universität war, oder sprach er ihn einfach als deutschen Steuerzahler an? »Dieser Junge, dieser mäßig begabte, eher arbeitsscheue junge Mann, Sie kennen ihn – von der Universität mit maßlosen Hoffnungen gefüttert, in die Promotion heimtückisch hineingelockt, ein Mensch, der mit Wissenschaft gar nichts zu tun hat! Anstatt etwas Vernünftiges zu lernen« – was war für Wereschnikow wohl etwas Vernünftiges? Da versagte seine Phantasie – »schlägt er seine besten Jahre mit einer elenden, niemanden bewegenden Promotion tot. Man sollte den Doktortitel für die Kinder der Bourgeoisie erblich machen, dann wäre die Universität diese Misere los.« Auch Glück war Träger eines Doktortitels, wie man weiß. Er stand auf seiner Visitenkarte und wurde sogar bei Merzinger berücksichtigt, in ironischer bis höhnischer Manier allerdings, wovon er gar nichts mitbekam – es stimmte einfach: Er hatte diesen Doktor tatsächlich mit mittlerem Ergebnis erworben, da gab es für ihn nichts abzuleugnen. Diese akademische Prozedur hatte überdies nicht viel Zeit verschlungen, in sein Gedächtnis war nicht viel davon eingesunken, er hätte nicht einmal den langen Titel seiner Untersuchung korrekt wiedergeben können.
»Herr Doktor nullius, müßte man sagen«, rief Wereschnikow mit seiner mächtigen Stimme, aber es war, als teile sich der Genius loci des Ecktischs auch bei ihm schon durch eine krakeelende Note mit. »Fünfunddreißig Jahre«, das war wie eine leidenschaftliche Anklage gerufen. Da sei er schon längst
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