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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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dann lange und glücklich gehen.
    Daß Frau Colisée unablässig sprach, störte Ivana nicht weiter. Frau Colisée richtete ihre Worte nicht in erster Linie an andere. Sie mußte einfach ihre Stimme hören. Ihr Geist war ganz nach außen gewendet. Das Innere war leer, beängstigend wie ein ausgetrockneter tiefer Brunnen, schwarz, etwas nachhallend im besten Fall. Daß sie durch widersprüchliche Befehle oft behinderte, daß geschah, was sie wünschte, entsprach ihrem geheimen Willen; sie klammerte sich geradezu an die Zähigkeit der von ihr gestörten Abläufe. Was würde geschehen, wenn alles schnell getan wäre?
    »Ivana, wenn du die Karaffe spülst, will ich nicht, daß du sie zum Trocknen wieder auf den Hals stellst – ich kann das nicht ertragen.«
    Ivana hatte die Küchenarbeit begonnen. Winnies Frühstückstasse stand noch da, Winnie machte sich fertig, um aus dem Haus zu gehen; um im geheizten, blumengeschmückten Büro von Frau Markies am Telephon zu sitzen, legte sie schwere schwarze Schnürstiefel an, die zu der militärischen Tarnhose allerdings gut paßten.
    »Gustav Adolfs Page«, sagte Frau Colisée mit weicher Stimme, als sie ihre zarte Nichte, die als Oberteil nur ein dünnes Unterhemd trug, verabschiedete. An Winnie erzog sie nie herum. Sie liebte das Mädchen mehr als eine Tochter und viel mehr als ihre kleine Schwester, Winnies Mutter – »Für mich ein Wunder, daß eine so –«, sie suchte nach etwas Verletzendem, aber zugleich Gerechtem – »durchschnittliche Frau ein solches Mädchen hervorgebracht hat.« Aber in diese weiche Stimmung hinein drang wieder die Notwendigkeit, mit dem Elektriker, der Pediküre und Ivana verbale Verbindung aufzunehmen. Es war, als stünden Menschen, mit denen man nicht gleichsam Funkkontakt hielt, in der Gefahr, sich zu verflüchtigen. Das Nichts war nahe, es mußte mit Sprechen, Rufen, Schimpfen gebannt werden.
    Wann Winnie wiederkomme? Ob sie dann nicht schon in die Seniorenpension Angelika abgereist sei? Ob Winnie sie dort finde?
    Winnie antwortete nichts, sondern umarmte und küßte sie liebevoll. Sie war doch eine erwachsene junge Frau, aber wie die nackten dünnen Arme da versuchten, den schwarzseidenen Koloß zu umfangen, wurde sie zu einem fünfjährigen Kind. Es war jedoch bezeichnend für den Geisteszustand von Frau Colisée, daß sie diesen Kuß, den sie über alles genoß, sofort selbst durchkreuzen, abkürzen und wegschieben mußte. Gab sie sich einem einzigen Gedanken hin, forderten augenblicklich mehrere andere dieselbe Aufmerksamkeit.
    »Nein!« rief sie deshalb so laut, daß Winnie erschrak. Das jetzt war an die Pediküre gerichtet, die dabei war, feine Häutchen von einem Zehennägelchen zurückzuschieben. »Es muß weh tun«, sagte die Pediküre, die mit dem Kopf wie in tiefer Betrachtung über den Fuß gesunken war.
    »Wehe, du stellst die Karaffe wieder auf den Hals«, das ging in die Küche hinüber, wo Ivana in der Ferne tatsächlich die mit warmem Seifenwasser gefüllte Karaffe wie einen Cocktailshaker schüttelte, und »Guck dir doch mal den Wackelkontakt an«, das ging zum Elektriker, und »Du kannst jetzt nicht gehen, ich brauche dich hier, die Wohnung ist voller Leute«, das war der wehe Abschiedsruf an Winnie, ausgestoßen von einer Ariadne auf dem Felsen, nur daß Frau Colisée selbst ihr Felsen war, eine ungeheure Masse jedenfalls, und höchstens durch Erdbeben in Erschütterung zu bringen. War Winnie erst fort, so fühlte sie, würde sie ganz allein um ihre Kommandogewalt kämpfen müssen. Sie befand sich mit diesen Menschen hier in einem Gelände, das von potentiellem Aufstand in Brand gesetzt werden konnte. Sie mußte sich rüsten. Sie mußte Ballast abwerfen. Sie strampelte mit den Füßen, die Pediküre stach sie unabsichtlich ins lymphatisch aufgeschwollene Gewebe. Protestgeschrei. Die Pediküre hob das graue Gesicht – sie war ganz in Rosa gekleidet, passend zu ihrem Frotteehandtuch –, die Feinsthärchen des rosa Angorapullovers bildeten um ihren Umriß eine Sfumatura, aber ihr Teint sah in der fröhlichen Farbe noch erloschener aus – jetzt mahnte sie zur Ruhe, sie könne sonst nicht weiterarbeiten, und Frau Colisée rief, was sie aus ganzer Seele nicht rufen wollte, aber rufen mußte: »Hoffentlich bist du bald fertig!« Und dazu dies kleine Kettchen um den Hals, das in den Speckfalten gelegentlich verschwand und dann wieder hervorkam wie jene Flüsse, die ihren Lauf hin und wieder unter die Erde verlegen. Wer

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