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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Augenwimpern zusammengekehrt werden. Je mehr ihr Geist zerfiel, desto mehr Menschen brauchte sie um sich herum. Selbst wenn sie schlief, wollte sie nicht mehr allein sein.
    Als Ivana an diesem Montag eintraf, war die Wohnung schon voller Leute. Die Tür öffnete ihr Winnie, Frau Colisées Nichte, die bei ihr wohnen sollte und nicht dort wohnen sollte – das änderte sich jeden Tag. Der Elektriker arbeitete am Sicherungskasten, weil bei gleichzeitiger Benutzung von Waschmaschine und Spülmaschine neuerdings die Sicherungen herausflogen, ein souveräner Mann, der sich durch die Zwischenrufe von der breiten Lagerstatt der Frau Colisée nicht irremachen ließ und mit seiner kraftvollen Baßstimme sogar beruhigend und jedenfalls wohltuend einschüchternd auf sie einwirkte. Ihr großes Schlafzimmer war das Zentrum der Wohnung, mit überquellenden, nicht mehr verschließbaren Schränken und Kommoden, mit überladenen Tischchen und Zeitschriftenbergen, die sich ins Zimmer hinein verbreiteten. Von dort öffneten sich Flügeltüren in die ebenfalls geräumige Küche, das war einstmals ein Wohnzimmer gewesen, jetzt konnte dort gekocht und gegessen werden, und in das Badezimmer – gut, daß die Türen so breit waren, denn durch einflügelige wäre sie nur mit geschickten Windungen hindurchgekommen. Vor ihr, die auf einem Kissenberg lagerte, hockte die Pediküre. Auf ihren Knien, die ein rosa Handtuch bedeckte, lag Frau Colisées linker Fuß, fleischig und von glattgespannter Haut, überzogen mit dünnen Zehen, die Schneckenfühlern glichen. Winzige Nägelchen beschirmten die Zehenspitzen, aber sie wuchsen und wurden zu spitzen, die Strümpfe zerreißenden Zähnchen. Keine Gewalt hätte Frau Colisée mehr dazu zwingen können, sich selbst zu diesen Fühlerzehlein herabzubeugen, es war eine physische Unmöglichkeit, aber die Pediküre war längst auch eine seelische Notwendigkeit geworden. Man konnte sie anrufen, einen Termin machen, den Termin absagen, ihn umlegen, man konnte, wenn sie schließlich da war – oft also –, ihre Tätigkeit mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen verfolgen, zwischendrin aufschreien, wenn unversehens etwas weh zu tun drohte, sie auf etwas hinweisen, was störte, und die Pediküre, die diesen Aspekt ihrer Anwesenheit verstanden hatte, nahm sich viel Zeit und feilte und schnitt und zupfte und weichte ein, als handele es sich bei Frau Colisées Füßen um Übungsobjekte zu Ausbildungszwecken.
    »Elektriker«, rief Frau Colisée, »ich kann mir deinen Namen nicht merken, aber sieh doch auch mal den Stecker von der Nachttischlampe an, die wackelt so komisch.« Der Elektriker war Türke, aber nicht deshalb duzte sie ihn, sie duzte jeden Menschen. Das hatte sie schon in den großen Zeiten ihres Berufslebens getan, die Kundinnen waren »Schätzchen«, die Angestellten wurden bei ihren Berufsbezeichnungen gerufen. Der Mann war nicht zum ersten Mal da und hatte gleichfalls die Lage begriffen.
    Es wäre wohl ein beschaulicher Vormittag geworden, wenn Frau Colisée nicht beschlossen hätte, heute noch in die Seniorenpension Angelika zu ziehen, aus der sie schon einmal verärgert ausgezogen war. Das Leben zu Hause sei zu anstrengend. Sie habe sich um tausend Sachen zu kümmern. Die Leute seien unzuverlässig, kämen, wann sie wollten, bedürften der strengsten Kontrolle, und sie sei der Kontrolle müde. Diese Aufbrüche mit Kofferpacken und mühevollem Die-Treppen-Hinabsteigen und noch mühevollerem Sich-ins-Taxi-Zwängen fanden drei- bis viermal im Jahr statt. In den entsprechenden Pensionen – an vielen Orten war sie längst bekannt, da machte man drei Kreuze, wenn sie anrief – blieb sie nie länger als zwei Wochen, dann war das Personal dort als arbeitsunwillig und unbotmäßig entlarvt.
    Trotz dieser Gesetzmäßigkeit waren Ivana solche Angewohnheiten nicht geheuer. Wo blieb ihre Sicherheit? Vielfach hatte sie Frau Colisée schon gedroht, sie werde sie nicht mehr zu Hause erwarten, wenn es mit der neuen Pension schon wieder nichts geworden sei. Es gab ein weiteres Zimmer in der Wohnung. Hier lagerte Frau Colisées Archiv, ihre Entwürfe aus vierzig Jahren, Stoffproben, alte Musterstücke von Modeschauen – das war groß genug für Ivana und Stipo. Der ganze Ramsch gehörte auf die Straße gestellt, Frau Colisée betrat dies Zimmer ohnehin nicht mehr und würde es nie mehr betreten, und dann würden die beiden dort einziehen und Frau Colisée allmählich erziehen, und so könnte es zu dritt

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