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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Karaffe wankte, sie neigte sich und fiel um, ein dumpfes Geräusch, das erste dieser Tragödie, rollte noch völlig unbeschädigt über die Abstellfläche, erreichte den Rand und – Frau Colisée schloß die Augen, als könne nicht geschehen, was sie nicht sah. Dies schreckliche Geräusch, das in ihre Nacht hereindrang! Dies Aufspritzen, dies knirschende Zerknallen. Sie meinte die umherfliegenden Splitter aufschlagen zu hören.
    Das Telephon klingelte. Das Telephon bewahrte sie davor, daß ihr Herz stillstand. Die schmeichelnde Stimme des Betreibers der Seniorenpension Angelika sprach in ihr Ohr: Wann denn heute mit der Ankunft der gnädigen Frau zu rechnen sei?
    »Es geht nicht, es ist unmöglich«, sagte sie mit schwacher Stimme, wie aus einer Betäubung heraus, »es ist etwas Furchtbares passiert, ich muß noch manches regeln, ich muß erst einmal sehen … Sprechen Sie mit Winnie, Winnie …« Diese Auskunft verschaffte ihr Erleichterung, sie fühlte sich gerettet.
    Und was war es, was war geschehen? Das Telephonsignal hatte es ausgelöscht. Aus der Küche kam ein scharrendes Geräusch, Ivana kehrte dort herum. Doch, jetzt war es wieder da: die Karaffe auf dem Abstelltisch. Sie blickte hinüber. Der Abstelltisch war leer und blank. Sie wandte sich der Pediküre zu. Es piekste wieder.
    »Paß auf«, sagte Frau Colisée.

Siebtes Kapitel
    Die Pflicht der Mestrovic
    Zum Lesen im Liegen auf dem Sopha – nur so kann ich lesen, die Geistesessenz muß ich mir wie ein liegender Kranker als Infusion einträufeln – war der große Mestrovic-Katalog nicht geschaffen; ich stellte ihn mir aufgeschlagen auf die Brust und las stets nur das obere Dreiviertel einer Seite, das untere schenkte ich mir, ich hätte den Katalog dafür anheben müssen. Ich frage mich, wieviel lückenhafte Lektüre solchen rein praktischen Gegebenheiten zu verdanken ist: zugeklebten Seiten, im Dämmer verschwimmenden Buchstaben, dem Daumen des Lesers auf einem Schlüsselwort. Wie ich da lag, das schwere Buch auf der Brust, das sich mit meinen Atemzügen hob und senkte, begann es sich zu beleben. Es breitete die weiten Flügel aus und schwebte auf mich hinab, aber nicht wie ein Raubvogel, der sich eine Beute reißt, sondern mütterlich, die Küken in den wärmenden Schatten nehmend. Wie zahllose Bücher vor ihm fiel auch der Katalog auf mein Gesicht, und die bloße Berührung mit den Seiten ließ mich in den Schlaf hinübergleiten. Freilich in einen mit Mestrovics Gestalt, Werk, Heimatland gesättigten Schlaf.
    Denn das weite steinige Tal, von verkarsteten, steil ansteigenden Bergwänden aus hellem Kalkstein eingefaßt, man konnte sich auch ein breites Flußbett so denken, das war Bosnien. Das Wasser war offensichtlich noch nicht lange abgeflossen, hier und da standen Pfützen, himmelblaue Wasseraugen, so unschuldig, als sei dies nicht vor kurzem noch der Ort einer Katastrophe gewesen. Schöne schwere Kiesel bedeckten den sandigen Boden, von Jahrtausenden zu Eiern und Kugeln geschliffen, aber dazwischen breitete sich überall menschlicher Abfall aus; Plastikbeutel mit verwaschenen Farben und Schriften, Schuhe, zerbrochene Flaschen, Dosendeckel, ausgequetschte Salbentuben, ja, es ringelten sich auch triefnasse Nylonstrümpfe zwischen den Kieseln, vom ablaufenden Wasser wie Algen geformt. Bedrängend war der Anblick eines großen toten Vogels mit verdrehtem Kopf, verklebten Federn und einer die Eingeweide offenbarenden tödlichen Wunde auf der Brust. Können Vögel denn ertrinken? fragte ich mich ernsthaft und hörte in meinem Innern sofort die verständige Antwort: Wenn das Wasser zu groß ist, schon.
    In der Ferne rührte sich etwas. Ein Mensch, eine schwarze Gestalt, tiefgebeugt, mit den Armen den Boden betastend. Ein Mann, eine Frau? Jedenfalls in Hosen, und im Näherkommen löste sich das Schwarze nicht in Farben auf, wie es das zu tun pflegt, sondern blieb schwarz. Einen schwarzen Jogginganzug trug diese am breiteren Becken jetzt als Frau erkennbare Person, die den Boden absuchte, Kiesel in die Hand nahm und sie wog, als prüfe sie das Gewicht. Wenn sie mit einem zufrieden war, warf sie ihn über die Schulter hinter sich, daß er klingend aufschlug, als sei er hohl. Es war ein konzentriertes, einer Ernte gleichendes Geschäft, dem sie nachging – Ivana Mestrovic, wer sonst, über den nassen Kieselstrand gebeugt wie über die Stufen in meinem Treppenhaus, nur daß hier eine Arbeit ohne Ende vor ihr lag, das Talbett zog sich bis zum

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