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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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nur die engen Schuhe hatte er noch nicht wieder angezogen. Er war so steif, daß er alleine nicht die Schnürsenkel binden konnte; diesen kleinen, aber bedeutsamen Dienst mußten ihm seine Damen leisten, das war die einzige Gelegenheit, bei der sogar Frau Breegen vor ihm auf den Knien lag.
    Wereschnikow war nicht müßig. Seine Jugoslawien-Konferenz erschien ihm als die große Chance, sich nach einigen weniger glücklichen Unternehmungen wieder ins Geschäft zu bringen. Eine überpolitische Konferenz, die sich mit Grundsatzfragen, »ethischen Weichenstellungen«, so Wereschnikow, »mit dem in der kulturellen Verschiedenheit Gemeinsamen« befassen sollte. Bedeutende jugoslawische Gelehrte, Kommunisten und Dissidenten, Separatisten und Unionisten wollte er an einen Tisch bitten, um die große Frage der menschlichen Würde und ihrer vielfältigen religiös-philosophisch-politischen Begründung zu erörtern. Man müsse in der gegenwärtig verfahrenen Lage bei den Basis-Werten beginnen – sich fragen: Wo sind wir einig?, oder besser: Wo können wir in einen Dialog treten? lehrte Wereschnikow. Keine Politik, bloß keine Politik, die Politik war es ja, was den Frieden gegenwärtig in ernste Gefahr brachte. Für die Konferenz gab es bekanntlich offizielles Interesse, in der Balkan-Abteilung des Auswärtigen Amtes hörte man Wereschnikow zu, bei den entsprechenden UN -Stellen kannte er Leute von früher, manche waren leider versetzt worden, es war verhext: Kaum verstrichen ein paar kleine Jahre, befand sich niemand mehr an seinem Platz. Aber immerhin jetzt dies Interview, während sich die Lage immer weiter zuspitzte. Eine sich zuspitzende Lage? Lage, etwas Breites, Formloses, grundsätzlich Unspitzes – in solche Sprachüberlegungen konnte Wereschnikow sich regelrecht verstricken. Maruscha kannte das, unversehens verbiß er sich in ein Problem, und dann ging es stundenlang nicht weiter, während er sich ereiferte und mit erhobener Stimme ihr und sich selbst empörte Reden hielt – und zugleich ließ der Balkan Spitzen aus sich hervorwachsen wie einst Vlad der Pfähler.
    Es kam etwas in Bewegung, man wollte Wereschnikow offenbar jetzt doch zuhören. Auf dem Bildschirm erschien sein schöner großer Kopf, sein Haupt; wo sonst war das Wort am Platze, zumal die Großaufnahme ihn nur bis zum Hals zeigte, das Wereschnikow-Haupt wurde Maruscha und Herrn Breegen wie auf einer Silberschüssel serviert. Maruscha war es nichts Neues, was sie sah, aber sie war jedes Mal bewegt, wenn sie einem Auftritt Wereschnikows beiwohnte. Ja, es kam ihr vor, als gelange er erst bei solchen Auftritten ganz zu sich selbst, wenn er den jammernden, den hadernden, den eifersüchtigen, den verschlagenen Wereschnikow, auch den kleinlichen, den geizigen und selbstsüchtigen Wereschnikow von sich wegstieß und den traurigen, gefaßten Ernst seiner öffentlichen Auftritte annahm; ein hochherziges Leiden, ein Versenktsein in die großen Menschheitsfragen, fernab vom Konkurrenzgerangel des Wissenschaftsbetriebs war ihm dann eigen. Und er zeigte sich nicht einfach als Trauerkloß, es war auch eine leichte Gereiztheit in seinen Antworten, die davon sprachen, daß dies alles für Menschen seiner Sphäre seit langem Selbstverständlichkeiten seien, von denen eine oberflächliche Öffentlichkeit aber allzu lange nichts hören wollte. Kam eine Frage, verzerrte er sein Gesicht ganz leicht, als versuche er angestrengt, der Unbeholfenheit der Reporterin irgend etwas Intelligibles zu entnehmen. Er glich dann jemandem, der bei einer wichtigen Arbeit gestört wird, aber zu gute Manieren hat, um einfach aus der Haut zu fahren: Tun Sie, was Sie nicht lassen können, sagte seine gequälte Miene, dann haben wir es hinter uns. Wie ausdrucksvoll er das Wort »Würde« aussprach, wie dies von seinen Lippen fiel, während die Augen müde und schildkrötenweise und ohne die Hoffnung, von der unbegabten und ahnungslosen Fernsehfrau begriffen zu werden, nach Verbündeten draußen an den Fernsehgeräten Ausschau hielten – dies gelang ihm tatsächlich: deutlich zu machen, daß er nicht mit der Interview-Dame sprach, sondern mit dir und dir und dir, der du das Fernsehen eingeschaltet hast und unversehens auch einen Menschen darin erkennst, einen »Menschen« – dies Wort sprach Wereschnikow womöglich noch eindringlicher aus als die Würde – mit der Würde bliebe er vielleicht allein, aber einen einzigen Menschen, dich oder dich, den würde es in der weiten Welt –

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