Das Blutbuchenfest
Stadt, in der kaum mehr als der alte Stadtplan mit seinen auf den Kosmos ausgerichteten Achsen an die glorreiche Vergangenheit erinnerte, aber die Häßlichkeit und Beliebigkeit der Umgebung steigerte noch den Reiz der in ihr eingekapselten ummauerten Gärten: Sie waren wahrhafte Inseln, die sich von dem städtischen Gebilde, in dem sie lagen, freigemacht hatten – sie konnten überall sein, sie waren abgelöst von Zeit und Raum, berauschend asozial.
Ich meinte, jetzt unbedingt etwas essen zu müssen, das mich mit dieser Gartenwelt verband, etwas, das auch ihren vorrevolutionären Bewohnern serviert worden wäre. Was dachte die höfliche Dame, wenn sie meine Schwärmereien hörte? Sie verbot sich jeden Kommentar. In einem blauen Plastikeimer präsentierte uns der Oberkellner des großen geräuschvollen Restaurants eine lebende Schildkröte. Nicht nur der Lärm und die Helligkeit hatten sie wohl erschreckt. Man darf sich vorstellen, daß sie unsanft in den Eimer gesetzt, womöglich gar geworfen worden war. Kopf und Beine waren gänzlich unter dem Panzer verschwunden, in jener ingeniösen, an perfekte Feinmechanik erinnernden Manier unter ihm zusammengefaltet. Sie hatte das Schwarz von geschliffenem Schiefer. Ihre Form war flach, als hätte ein Bildhauer sie geformt, die Panzerfelder gemeißelt, Luxuszigarettendosen des Jugendstils können diese zum Berühren verlockende Glätte ohne Ecken und Zacken haben. Hier war es das Wasser, der stille Teich, in dem diese Schildkröte herangewachsen war, was als Komplementär die Form erklärte. Durch das flüssige Element glitt und schob sich die Panzerform widerstandslos wie ein Stück Seife im Bad. In dieser herrlichen Steinschale mußte die Muskulatur der Schwimmerin keine Lasten stemmen. Sie schwebte zwischen den Stengeln der Seerosen auf kleine Stöße der schuppig-faltigen Beinchen dahin.
Der Kellner nahm die Schildkröte heraus, er wollte sie vorführen. In der Luft schwebend hielt sie die vollständige Einfaltung aller Gliedmaßen nicht mehr für geraten. Langsam schoben sich der Kopf, der faltige Hals und die krallenbewehrten Beine aus der Bedeckung. Die Gliedmaßen waren so schwarz wie der Panzer, aber nun pulsierte der Schiefer. Die Beine suchten nach Halt, die Luft bot keinen Widerstand, aber dies war kein Zappeln, sondern ein feines Tasten. Spürte sie die Hand, die sie hielt? Drang deren Wärme durch den Panzer? Mitten in der hornigen Reptilienhaut schimmerten blank die schwarzen Augen, lidlos, wie es schien, da schob sich von unten ein eihäutchenzartes graues Lid über die Augen, ein kleiner Schutzgestus, nicht sehen zu wollen, was ohnehin unverständlich-bedrohlich war. Das Tier war ein Kunstwerk aus Schildpatt und zartestem Leder, zugleich mit einem kleinen, schwachen, aber zähen Willen ausgerüstet, einer besonnenen Unerschrockenheit, mit jugendlich blinkenden Augen im uralten Gesicht.
»Das ist eine gute Krankensuppe«, sagte die Dame, während sie die Schildkröte kühl musterte. Meine akribische Betrachtung kam ihr wahrscheinlich unangemessen vor.
»Sie ist typisch für Suzhou, eine Spezialität dieses Restaurants.« Ich würde etwas essen, das mich mit den stillen Teichen, den schwerfälligen Riesengoldfischen, die sich so gierig um das Futter tummelten, daß ihre Flossen aus dem Wasser ragten, noch inniger verband. Auf einen Blick der Dame entfernte sich der Kellner mit dem Eimer. Und bald begann die Speisenfolge, die vielfarbigen Ragouts, die schwarzen Pilze und die gefüllten Teigtaschen, getrocknete Fische mit Riesenaugen und Krebse in salzig-würzigen Saucen, die wie frischer Lack waren. Auch bei den Krebsen blieb, so knusprig sie gebacken waren, die Schönheit der organischen Form evident. Es waren Schmuckstücke. Das Ei, der Fisch, der Hummer – am Beginn aller Kunst hatte der Augenblick gestanden, in dem einigen Menschen die Vollkommenheit solcher Körper urplötzlich bewußt geworden war.
Erbauliche Gedanken, noch ganz auf der hohen Woge der Inspiration meines Gartentags schwimmend. Ja, ich fühlte mich jetzt vollständig als Chinese, eingetaucht in diese andersartige, diese fremdartige Weise der Naturvermählung, die so weit von nordeuropäisch-pantheistischen Anwandlungen entfernt war, so viel sinnlicher, so viel kultivierter zugleich, kein Religionsersatz, sondern eine höchst physische Verschmelzung von Kunst und Leben.
Der Kellner brachte eine metallische Terrine mit hohem Deckel. Sie war heiß. Er trug sie in eine Serviette
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