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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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gehüllt und setzte sie vor mich hin, die vielen kleinen Schüsseln schob er zur Seite. Er hob den Deckel in die Höhe. Vor mir reckte sich, umgeben von einem Suppensee, die Schildkröte. Sie war erschreckend verwandelt, im Tod zu einer Verzweiflungsgeste erstarrt, die jede Erinnerung an tastende Besonnenheit wegfegte. Ihre Haltung bewahrte den Augenblick ihres grausamen Endes. Die Bewegung des Dampfes, der aus der Terrine stieg, verlieh ihrem Anblick den Anschein gespenstischer Lebendigkeit. Ebenso gedampft, nur noch brodelnder, hatte der Suppentopf, über den die schwarze Schildkröte gehalten wurde, nachdem sie ein weiteres Mal aus dem blauen Eimer gehoben worden war. Der Dampf schlug ihr entgegen. Wieder fuhr sie mit dem keilförmigen Schlangenkopf aus dem sicheren Gehäuse, das für diesen Angriff aber keine Sicherheit mehr versprach. Zum Eintauchen in einen Wasserspiegel war sie geschaffen, wie von Künstlerhänden dafür geeignet gemacht, und nun ging es an ein letztes, schauriges Eintauchen. Im Sturz und bei der Berührung mit der kochenden Brühe fuhr der Hals in nacktem Entsetzen ganz nach vorn. Der Kopf bog sich in dem vergeblichen Bemühen, aus der brennenden Brühe herauszukommen, jetzt gänzlich schlangenhaft und auf überraschend langem Hals nach hinten über den Panzer. So klein das Tier war, es offenbarte jetzt eine Drachenhaftigkeit aus Schmerz und Empörung, eine Drohung und Verfluchung all jener Gefühllosen, die ihm so etwas antaten. In dieser letzten Verzerrung war es uns auf den Tisch gebracht worden, als Vorwurf und Albtraum.
    »Die Menschen sind nicht gut«, sagte die mich begleitende Dame mit ihrem unverbindlichen Lächeln. Es überraschte mich, daß sie in meiner Miene so aufmerksam zu lesen verstand. Die Brühe schmeckte wie eine sehr feine Hühnersuppe. Der Panzer war aufgeschnitten. Als ich ihn aufklappte, fand ich weißes faseriges Fleisch. Dabei neigte sich das Drachenhaupt beiseite und versank in der Suppe.
    Die Beunruhigung, in die mich die Erinnerung an den Tod der Schildkröte, ihren durch mich verursachten Foltertod versetzte, war nicht grundsätzlicher, philosophischer Art. Die feinflüssige Bouillon, die ich mit Beklommenheit löffelte, als müsse der Todesschmerz und die irre Wut des Aus-der-Haut-fahren-Wollens, die die letzten Sekunden der Schildkröte erfüllt hatten, der Suppe irgendeinen bedenklichen, einen fatal schlüpfrigen Hautgoût mitgeteilt haben, verglich ich mit Hühnersuppe, ohne mir deswegen über das Schicksal der vielen Hühner, die ich schon aufgegessen hatte, die mindesten Gedanken zu machen. Der ganze Komplex der Grausamkeit und Gedankenlosigkeit der Menschen gegenüber den Tieren, er war es nicht, was mein schlechtes Gewissen hervorbrachte, nein, es war einzig diese eine Schildkröte, die ich in meinem Schlund und Bauch beerdigte, die mir nun immer wieder vor Augen trat, wenn ich das nicht wollte. Manchmal lebend, in der Vollendung der pulsierenden Schieferskulptur, der die Menschen mit der grenzenlos dummen und häßlichen Gemeinheit eines blauen Plastikeimers geantwortet hatten. Öfter aber in der drachenhaften Verzweiflungsgeste des herausgefahrenen und zurückgebogenen Halses und Kopfes: Dieser Kopf würde in meiner Todesstunde Zeugnis gegen mich ablegen. Die schwarze Schildkröte hatte in ihrer geballten, unter dem Panzer zusammengepreßten Substanz einen Rachegeist geboren. Ihr Schmerzenskopf stand, wenn ich die Augen schloß, sauriergroß vor mir in seiner Todesnot, die jedes Erbarmen in sich auslöschte. Wie dem entkommen? Wie dies Bild befrieden, das Hirn davon befreien, den Geist der Rache und Verfolgung beruhigen? Gutzumachen war hier nichts. Die letzten Lebensmomente der Schildkröte waren unrevidierbar, durch keine Reue sanfter zu machen.
    Denkbar weit weg von Suzhou und China, in einer kleinen Stadt Bosniens, tat sich schon wenig später die Möglichkeit einer begütigenden Handlung auf – das war meine erste kurze Mestrovic-Reise nach Bosnien, noch ohne Ivanas Hilfe, sie war aufrichtig gekränkt, als sie davon erfuhr. Es ging um Photos für meinen biographischen Aufsatz, weswegen ich mich dort herumtrieb, und man sieht, wie lang das Seil war, an dem die Schildkröte mich festhielt. Weglaufen konnte ich ihr nicht, und wenn ich die Lebenssituationen wie die Hemden wechselte. Die Fessel löste sich deshalb nicht auf, wo ich mich auch nachts ins Bett legte. Wenn ich das Licht löschte, war die Schildkröte schon da.
    In einer unbelebten

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