Das Blutbuchenfest
Seitenstraße stieß ich auf einen kleinen Teppichladen, im Hintergrund ein Teppichstapel, auf dem Boden lag ein Kelim in Naturfarben; schwarz-ocker-beige zackte und zähnte es sich ineinander. Warum blieb ich stehen? Hatte ich schon im Vorübergehen aus dem Augenwinkel bemerkt, daß dies Muster sich bewegte, daß die schwarzen und bräunlichen Felder sich dehnten und schrumpften? Ja, die Muster bewegten sich, aber es waren nicht die Muster, es war eine große Schildkröte, deren Panzer dem Teppichmuster ähnlich war. Ein Junge saß auf dem Boden und sah ihr auf ihrem Weg zu. Erreichte sie den Teppichrand, ergriff er sie und setzte sie in die entgegengesetzte Richtung, als solle sie ihre Arbeit und dies Arbeitsfeld nicht verlassen. Sie wirkte kräftig daran mit, den Teppich interessanter erscheinen zu lassen. Mit ein wenig Haschisch im Blut hätte man die sich zäh verschiebenden Muster tanzen sehen. Wie mochte der feine Teppichstaub den Lungen der Schildkröte bekommen? Staunenswert war die Tapferkeit, mit der sie ihre Andersartigkeit unverdrossen herumschleppte, als komme es auch für sie darauf an, mit dem Gehen nicht innezuhalten, als habe sie einen geheimen Sinn in ihrem endlosen Marsch erkannt und halte ein Ziel im Auge, das sie gegen den mutwilligen Widerstand des großen Jungen, der über sie verfügte, weil er nichts Besseres zu tun hatte, nicht aufgab. Die gebogenen Schuppenbeine ruderten und säbelten still voran, erst das eine Bein mit seinen Krallen sich im Teppich einhakend, den ganzen schweren Leib nachziehend, dann machte das andere dasselbe, während die Hinterbeine stemmend und schiebend nachhalfen, diese sehnigeren und dünneren Hinterbeine glichen zwei Männern, die einen Lastwagen anschieben. Es gibt keine fetten Schildkröten. Der Panzer gestattet ihnen keine Unmäßigkeit, sie halten sich in ihrer mich zutiefst bewegenden schönen Form, aber die Fortbewegung der Schildkröte glich der Behutsamkeit und umständlichen Bedachtheit unmäßig Dicker, die beim Gehen mit den auf den Fettringen des Leibes ruhenden Armen rudern. So trieb der kleine, kühl-trockene Kopf mit dem erbsengroßen Hirn die Last des Panzers voran, das aber nahm die ganze Kraft der Schildkröte in Anspruch.
Dies war meine Schulderlösungsschildkröte, die Gewissensschildkröte, die albtraumbeendende Schildkröte. Dem großen Jungen machte das Handeln Spaß, er hätte freilich lieber einen Teppich verkauft. Wenn ich einen Teppich nähme, erhielte ich die Schildkröte zum Geschenk. Aber gerade geschenkt durfte sie nicht sein. Während sie in nicht abreißender, geradezu trotziger Geduld ihren Lauf fortsetzte, wurde buchstäblich über ihren Kopf hinweg ihr Schicksal verhandelt. Es verstand sich von selbst, daß der Junge den Preis senken mußte, aber nur aus Gründen der guten Konvention. Ich handelte nicht sehr entschieden. Ich kaufte die Schildkröte freiwillig und sehenden Auges zu teuer. Das war eine innere Notwendigkeit.
Noch einmal, ein letztes Mal kam auf sie jetzt eine Quälerei zu. Ein letztes Mal mußte ihr Wille sich unter das Joch körperlicher Übermacht beugen. Im Pappkarton, in den der große Junge sie hineinsetzte, zog sie augenblicklich Kopf und Beine ein. Erinnerte sie sich an die beunruhigende Reise aus der Freiheit des sandigen Umlandes in diesen Teppichladen? Wie weit reichte die Erinnerung eines solchen Wesens? Mußte es nicht damit rechnen, seine Lage stehe erneut davor, sich empfindlich zu verschlechtern? Aber auf dem Weg zu den Sandhügeln begann sie sich im Dunkeln zu bewegen. Ich spürte, wie sich ihr Gewicht verlagerte. Es kratzte und raschelte und schabte im Karton. Sie bekam mein Gehen, ein eilendes Gehen, um ihre Unsicherheit nicht zu verlängern, als Erschütterung mit. Es mußte ihr unter ihrer Schale wie ein Schwappen in einer großen Flasche vorkommen, zum Seekrankwerden. Ich versuchte, so achtsam und ebenmäßig zu gehen wie der ein Tablett tragende Steward auf schwankendem Schiff. Manchmal stieß mich in der bevölkerten Hauptstraße ein Passant an, dann entschuldigte ich mich bei der Schildkröte. Dies zweifellos beseelte Wesen, konnte es nicht in einen sympathetischen Austausch mit einer ihm wohlgesonnenen Seele treten?
Die dünenartigen Sandhügel waren, je weiter ich mich von der Stadt entfernte, mit niederem Gestrüpp bewachsen, kratzigen Hecken, die nichts Nahrhaftes boten, so schien mir von meinem Menschenstandpunkt aus, aber Schildkröten sahen das vielleicht anders. An einem
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