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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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einsamen Busch wuchsen kleine Halme, Ästchen mit hellgrünen Blättern in Bodennähe, erreichbar für einen herausgereckten Schildkrötenhals. Ich öffnete den Karton. Die Schildkröte hatte sich wieder in sich zurückgezogen, in ihr Schildpatt-Etui, in das zwischen Schale und Beine kein Blatt Seidenpapier mehr gepaßt hätte. Ich nahm sie heraus und setzte sie behutsam auf den Sand. Sie rührte sich nicht. Ich wartete. So unbewegt würde ich sie nicht zurücklassen. Aber dies Verharren war ein konzentriertes Sich-in-die-neue-Lage-Einfühlen. Durch die Schale spürte sie offensichtlich, wo sie sich befand: nicht mehr im Teppichladen und nicht auf undurchdringlichem Karton. Sie rührte sich vorsichtig. Der Kopf wuchs aus der Schale hervor. Es herrschte Stille um sie, ein leichter Wind kam von den Bergen. Die Schaufelbeine rührten sich. Und zugleich begannen sie zu graben, aber das war ein kaum sichtbares Graben. Die Schildkröte versank mit dem Kopf zuerst langsam im Sand. Es war ein In-den-Sand-Gleiten wie auf einem Fahrstuhl, als hätte sie gewußt, daß es hier, genau hier eine Falltür gäbe, die hinabführte in ein unterirdisches sicheres Reich. Dahin ohne Verweilen aufzubrechen, endlich weg von lauten Stimmen, von aus der Luft herabfahrenden Händen, das war ihr einziger Gedanke. Dunkelheit, Ruhe, Sandkühle, ein Ort des Vergessens und der Gesundung. Ich wartete, bis sie ganz verschwunden war und der rieselnde Sand ihre Schale zugeschüttet hatte.
    Aber was hatte die chinesische Schildkröte mit der bosnischen Schildkröte zu tun? Ein Zeichen, daß die Freiheit der einen für das entsetzliche Ende der anderen irgendwie angenommen und aufgerechnet werden sollte, habe ich dennoch erhalten. Auf dem Heimweg aus den Dünen betrat ich einen verwilderten Friedhof, dessen Marabut-Kuppeln halb eingestürzt und dessen Gräber dick von zähkriechenden Pflanzen überwachsen waren. Zwischen den Zweigen des Gestrüpps aber leuchtete es weißlich. Es sah wie eine menschliche Hirnschale aus, aber es war ein verlassener Schildkrötenpanzer. Seine Besitzerin war auf diesem Friedhof ungestört alt geworden und schließlich gestorben, und nach ihrer Verwesung hatte sich ihr Panzer wundersam verwandelt, zu einer Art Geistpanzer hatte er sich fortentwickelt, ganz ausgesogen und ausgetrocknet, milchig schimmernd, feinporig, bimssteinhaft leicht und hart war er geworden. Jetzt erst zeigte sich, daß auch der Panzer lebende Substanz gewesen war, von Kapillaren voller Lebensflüssigkeit durchzogen, die nach ihrer Austrocknung eine neuartige Grisaille hatten entstehen lassen, einen Schildkröten-Mond, dem weißen Regenbogen vergleichbar, der sich oft neben dem farbigen hinzieht.
    »Hast du ihn aufgehoben?«
    »Ja, ich habe ihn noch – willst du ihn einmal sehen?« Die Schildkröte hörte nicht auf, sich wichtig zu machen. Über diesem Panzer habe ich sie zum ersten Mal geküßt, nachdem Winnie mit ihren kühlen Fingerspitzen bewundernd sein zartes Grau betastet hatte. Ich gebe aber zu, daß ich auf diese Gelegenheit schon seit Tagen gewartet hatte.

Siebzehntes Kapitel
    Tragödien und ihre Vermeidung
    An den Tagen großer Fußballspiele rollte Merzinger eine Leinwand auf und verwandelte sein Restaurant in ein Kino. Wenn es heiß war, konnte für die Fußballverächter auf der Terrasse der Service weitergehen, obwohl die Mädchen und der Kellner dann während der Bestellungen unaufmerksam waren, den Kopf zum Haus hin wandten und es oft lange dauerte, bis das Essen kam. Rotzoff war der Fußball gleichgültig, aber er ließ ungern ein Spiel aus, weil er seinen Platz am Ecktisch zu behaupten hatte und es darauf ankam, die Interpretationshoheit innerhalb des Zirkels zu wahren. Nun kam hinzu, daß er darauf rechnete, Doktor Glück vor dem Bildschirm zu finden, der gleichfalls kein echter Fußballfanatiker war, auf der Suche nach Gemeinschaft aber willens, nicht nur ein Spiel zu verfolgen, sondern auch die stundenlange Erörterung desselben hinterher durchzusitzen und schweigend Glas um Glas zu leeren, bis sein Schweigen vom Zustand freiwilligen Nichtsprechens zur Unfähigkeit zu artikulieren gelangt war. Gerade dann versuchte er übrigens einen gelegentlichen Einwurf, und zwar, indem er sich bemühte nachzusprechen, was ein anderer in die Runde warf.
    »Zibulsky hat in der zweiten Halbzeit enttäuscht.«
    »Hat enttäuscht!« sagte Glück, leise fortfahrend: »Wer hat enttäuscht? Warum …«
    Dann kam ein anderer: »Ngambo ist

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