Das Blutbuchenfest
große ausdrucksvolle Nase und den fehlenden Hinterkopf; ich hätte seine Silhouette unter Tausenden herausgefunden. Sein Mund stand, wie meist, ein wenig offen, er hörte mit der Bereitwilligkeit eines Mannes zu, der zu unbedingter Gefolgschaft verpflichtet ist, aber auf die Ratschlüsse keinen Einfluß nimmt. Mein Klopfen an die Scheibe hörte niemand. Die Männer waren in ihrem überhellen Bunkerraum von der Außenwelt abgeschieden, vielleicht hatten sie gar die Tageszeit vergessen. Auch das Nachbarfenster hatte ein nichtbeschlagenes Eckchen, und hier entdeckte ich Ivana schließlich, im Kreis von gewiß zehn Frauen, die auf dem Bett und auf dem Boden lagerten. Ich hatte sie noch nie schöngemacht gesehen. Jetzt war sie geschminkt, die Lippen waren etwas verbreitert mit dem fetten Rot, es überraschte mich, daß sie ihre Schmallippigkeit als Mangel empfand. Sie war hübsch angezogen, mit gleichfalls feuerrotem Rock. Ich hätte geschworen, daß sie Rot tragen würde, wenn sie die Wahl hatte, sie war ein marsischer Mensch mit Affinität zu Feuer und Blut. Um so ungewohnter ihre Gemeinsamkeit mit den anderen Frauen. Wie die Hühner hockten sie da zusammen unter dem Neonmond, die meisten jung, manche reizvolle Erscheinung, aber in dieser Gruppenformation zum Weibervolk geworden. Hier wurde weniger geraucht, aber auch hier war die Spannung der Zusammenkunft spürbar, die sich bei den Frauen im Warten ausdrückte auf das, was nebenan beschlossen wurde.
Ivana wurde auf mich aufmerksam. Sie tauchte aus der Gruppenexistenz empor und öffnete das Fenster. Ich sah auf ihr lächelndes Gesicht hinab wie auf ein an der Brunnenoberfläche schwimmendes Spiegelbild. Wie gut standen ihr die blinkenden Goldohrringe, die vielleicht schon ihre Großmutter getragen hatte, auch die sich zu mir emporreckende Hand, in die ich meinen Schlüssel legte, trug einen rotgoldenen Ring. Ich kam mir vor, als erlaubte ich mir einen Blick hinter die Kulissen ihres Lebens, als betrachtete ich sie aus einem eigentlich nicht statthaften Blickwinkel.
Ich wechsle in Winnies Welt, in die Wohnung von Tante Beate, wie ich mich schon gewöhnt hatte zu sagen, die aber gleichfalls zu Ivanas Sphäre gehörte, am liebsten sogar ganz zum Einflußbereich Ivanas hätte werden sollen. Das Badezimmer erinnerte von allem, was Beate Colisée besaß, am stärksten an ihre Jugendjahre, an das ländliche Haus in Lothringen, aus dem sie stammte und in dem das Badezimmer noch keine gekachelte Naßzelle war, wie es durchaus realistisch heißt, sondern ein großer heller Raum, die Wanne nur ein Möbelstück unter vielen, es hatte sogar ein Sopha dort gestanden. In diesem großen und behaglichen Bad gab es eine Kommode, auf der schwersilberne Haarbürsten, Schildpattdosen und kristallgeschliffene Zahnsalzgläser ausgestellt waren, und aus diesem zu ewigkeitlicher Nichtbenutztheit zusammengefügten Ensemble ragte eine Porzellanhand; es sah aus, als sei in der geräumigen Kommode eine Dame gefangen, die sich zu befreien suchte. Es war nämlich unverkennbar eine Damenhand, ein Handmodell aus einem alten Handschuhgeschäft. Beate Colisée schätzte keinen Schmuck, wie man weiß, hatte Schmuck sogar verachtet, diese Verachtung vor ihren Kundinnen aber weitgehend verbergen müssen – genug, sie selbst trug keinen Ring, keine Kette und keine Brosche und sagte gern, sie wolle am liebsten so nackt, wie sie geboren sei, durchs Leben gehen.
Aber einen einzigen Ring besaß sie eben doch. Es hing wahrscheinlich eine Geschichte daran, es war ein ziemlich großer Rubincabochon, der an ihrer Hand gewiß gut ausgesehen hätte, aber an ihren Finger kam er nicht, er kam auf den Porzellanfinger der eingesperrten Dame. Und dort behielt Beate Colisée ihn im Auge. Sie hatte nie an ihren Besitztümern gehangen, war eine generöse Schenkerin, und nun kam das Vergessen hinzu, immer mehr rutschte hinaus aus ihrem Bewußtsein. Und der Ring wäre, obwohl an sich groß, doch klein genug gewesen, um gleichfalls davonzurutschen und in die ungemessenen Tiefen der Seele zu sinken, aber das tat er nicht. Sie hatte die Angewohnheit, ihn bei jedem Aufenthalt im Bad zu berühren und auf dem Porzellanfinger zu drehen, wie im Märchen die Zauberringe gedreht werden müssen, wenn die Wünsche in Erfüllung gehen sollen. Der Ring besaß eine Vergessensresistenz, er gehörte zu den Orientierungsmarken in ihrem Leben. Und eines Tages war er weg.
Beate Colisée stand im Bad vor der Kommode und berührte in
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